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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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breitete sich in seinem Gesicht aus. Mehrfach setzte er zu reden an, doch es schien ihm nichts Rechtes einzufallen. Schließlich meinte er leichtfertig: »Verstehst du nun, warum ich den menschlichen Körper erforschen will? Weil er so viel leichter zu verstehen und zu erklären ist. Dich hingegen verstehe ich nicht.«
    »Wann hättest du’s auch je versucht.«
    Heiße Tränen strömten jäh aus ihren Augen und reinigten ihr verdrecktes Gesicht. Das Bild vor ihr verschwamm, und sie vermochte nicht einmal zu sagen, ob er ihr Weinen noch bemerkte oder nicht.
     
    Sie ging, ohne sich endgültig von ihm zu verabschieden. Sie war nicht leichtgläubig genug, um zu hoffen, er würde sie aufhalten, ihr etwas nachrufen. Doch dass sie eine Entscheidung getroffen hatte und diese unwiderruflich war, dessen wurde sie sich erst bewusst, als sie das nächste Dorf erreichte.
    Ihre Wege hatten sich getrennt, für heute, für morgen, wahrscheinlich für immer. Von ihrem Teil des Weges wusste sie freilich nur, dass er sie von ihm wegführte, nicht wohin. Vielleicht wusste sie es auch, wollte es sich aber nicht eingestehen, sondern klammerte sich noch an die Möglichkeit, sich alleine durchzubringen.
    Sie kauerte sich vor die Kirche, weil dies das höchste Gebäude war und am meisten Schatten spendete. Auch der Entschluss zu betteln wurde ihr erst dann zur Gewissheit, als sie ihn bereits umsetzte.
    »Bitte … ein Stück Brot«, murmelte sie, als sich Schritte näherten. Hochzublicken wagte sie nicht, aus Angst, Abscheu und Verachtung aus den Gesichtern zu lesen. War das die Fratze der Freiheit, von der ihr Vater gesprochen hatte? Nichts zu haben außer dem, was sie am Leibe trug?
    Niemand gab ihr Brot, eine Frau spuckte nach ihr. Dass sie noch tiefer sinken konnte, erfuhr sie schließlich, als das Abendlicht den Staub der Straße rötlich färbte. Wieder näherten sich Schritte. Erstmals blieb jemand vor ihr stehen, blickte auf sie hinab. Vorsichtig hob sie den Kopf. Sie hatte den Eindruck gehabt, jene Gestalt humpelte. Sollte Aurel doch …?
    Sie war zu müde, um es zu erhoffen. Es war auch nicht Aurel, sondern ein einäugiger Bettler, der sie nun anstarrte, das Gesicht von der Krätze zerfurcht, die Kleidung stinkend.
    »Hau ab!«, ertönte es nuschelnd. »Hau ab! Das ist mein Revier!«
    Alaïs erhob sich hastig. Solange sie hockte, machte die Kreatur ihr Angst. Als sie aufrecht stand, merkte sie jedoch, dass sie einen guten Kopf größer war, kräftiger und gesünder.
    Er kann mich nicht vertreiben, dachte sie. Ich könnte mich gegen ihn wehren.
    Doch der Gedanke, mit einem Bettler zu balgen, nach ihm zu treten, ihn zu kneifen, ihn zu beißen, wie sie es mit Aurel getan hatte, widerte sie dermaßen an, dass sie freiwillig davonlief.
    Sie ging weiter und immer weiter. Bei Tag und bei Nacht. Zwischendurch schlief sie unter Bäumen, trank Wasser in schlammigen Bächen, pflückte Obst und Oliven. Beides machte nicht satt, vertrieb nur die ärgsten Schmerzen, die in ihrem hungrigen Leib rumorten. Ihre Füße bekamen Blasen. Ihre Haut begann unter Krusten von Schweiß und Dreck zu jucken.
    Ein Leben lang war sie stark und zäh gewesen. Sie hatte weheGlieder und Hitze ertragen, Hunger und Erschöpfung, Enge und Anstrengung. Doch nun erwachte sie am Morgen mit dem gleichen Gedanken, mit dem sie am Abend einschlief: Ich kann nicht mehr.
    Für kurze Zeit noch konnte sie dem Verlangen, aufzugeben, Stolz, Sturheit und Freiheitsdrang entgegenhalten, doch im Trott der Schritte, die immer langsamer und schwerfälliger ausfielen, verstummte jegliches Aufbegehren gegen eine Entscheidung, die sie gar nicht bewusst traf und die sie doch in eine bestimmte Richtung trieb: nach Hause. Bis vor kurzem hätte sie nicht vermeint, so tief fallen zu können und Zuflucht ausgerechnet an dem Ort zu suchen, der ihr immer nur ein Gefängnis gewesen war. Doch der Gedanke zu fallen – ganz gleich, wie tief – schreckte sie nun nicht mehr, solange ihr die Hoffnung blieb, sie könnte nach dem Fallen endlich liegen bleiben, sich ausruhen, neue Kräfte sammeln, auch wenn sie nicht wusste, warum und wozu.
    Und dann, eines Tages, stand sie auf jener Anhöhe, von der aus man nach Saint – Marthe blicken konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, wie schwer Müdigkeit auf einem lasten konnte. Es war, als schleppte sie einen riesigen Felsbrocken mit sich, und die Erschöpfung und der Hunger hätten sie sämtliche Freiheit für ein Stück Brot verkaufen

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