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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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mit bösartigen Blicken.
    Sie hatten Pierre dort liegen lassen, wo der Stier ihn so übel zugerichtet hatte. Das wilde Tier hatte man irgendwie gezähmt und wieder eingesperrt. Hinterher würde man ihn schlachten, und Dulceta – so erzählte man es sich im ganzen Dorf – würde beim Anblick von jedem Stück Schinken ein Kreuzzeichen schlagen. Essen würde sie den Schinken trotzdem; man ließ kostbares Fleisch nicht einfach verderben.
    Wenn man auch den Stier gebändigt hatte, hatte niemand es gewagt, den Verwundeten anzurühren. Er lag stöhnend in einer Blutlache, und gleichwohl sich rasch ein kleines Grüppchen – bestehend aus Verwandten, Nachbarn und einigen Kindern – um ihn geschart hatte, wagte keiner, den Bannkreis zu überschreiten.
    Als die Menschen Dulceta sahen, wichen sie erleichtert zurück. Doch was, so ging es Alaïs höhnisch durch den Kopf, sollte dieses dumme Weib schon ausrichten?
    Vor gar nicht langer Zeit hatte sie selbst gezögert, dem verwundeten Aurel nahezukommen, hatte mit Zittern und Ekel und Ohnmacht zu kämpfen gehabt, ehe sie sich überwinden konnte, ihm das Bein abzuschneiden – und hinterher hatte ihr tagelang allein beim Gedanken daran gegraut.
    Pierres Anblick löste hingegen mitnichten diesen Schrecken bei ihr aus, vielmehr kalten Stolz, weil die Menschen von Saint – Marthe zum ersten Mal erschauen mussten, was ihr mitnichten fremd war. Weil sie sich ängstlich anstießen, manch einer würgend, während sie das Gefühl hatte, Pierre sei nur einer von unendlich vielen Kranken, Leidenden, Toten, denen sie im Leben begegnet war – mal länger, mal kürzer, in jedem Fall nicht weiter bestürzend.
    »Alaïs!«, rief jemand ihren Namen. Es war ihr älterer Bruder Felipe, der mit seiner Frau Estela ebenfalls in Pierres Nähe stand. Seit ihrer Rückkehr hatte er nicht mit ihr gesprochen, entweder weil er grundsätzlich wortkarg war, oder weil er sie verachtete wie der Rest des Dorfs. Nun deutete er auf den Leib des Verwundeten. »Sieh doch nur, welch abscheuliches Gewürm ihm im Magen sitzt!«
    Alaïs trat näher und beugte sich vor. Aus der aufgerissenen, blutigen Bauchdecke trat rot und sich wie eine Schlange windend der Darm. Der Anflug eines Lächelns verzerrte ihre Lippen. Wenn ihr nur wüsstet, dass ihr allesamt solch ein Gewürm im Leibe hocken habt …
    Das sagte sie jedoch nicht laut – vielmehr sagte sie etwas anderes, etwas, das ihr in den Sinn kam, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Sie murmelte es wie ein Gebet, das man so oft gesprochen hat, dass man über den Sinn der einzelnen Worte nicht nachdenken muss.
    »Der erste Teil des Darms heißt
Duodenum.
Dann folgt das
Jejunum,
das meist leer ist, das dünne
Ileum,
schließlich nach
Cecum
und
Colon
das
Rectum.«
    Niemand hörte auf sie, niemand beachtete sie. Erst als sie sich neben den Verwundeten kniete und seinen Leib abtastete, ertönte ein Raunen. Daran gehindert wurde sie freilich nicht. Der Ekel zog weiterhin einen dünnen Bannkreis zwischen dem Verwundeten und den Gaffern, und nur Alaïs wagte ihn zu überschreiten. Sie betrachtete die Wunde, zog die Haut an manchen Stellen auseinander, befühlte den aufgeblähten Leib. »Der Darm … Der Darm ist an einer Stelle verletzt, aber das kann man nähen«, erklärte sie. »Sonst scheinen mir die Organe heil zu sein.«
    Sie hob den Kopf, sah, dass die Menschen weiter zurückgewichen waren, und war sich nicht sicher, ob vor ihr oder vor dem Verwundeten.
    Einzig Estela, Felipes Frau, trat schließlich zu ihr, sank auf den Boden und stützte den Kopf von Pierre. »Was … was kann man tun?«
    »Ich brauche Wein«, sagte Alaïs fast tonlos zu ihr. »Viel Wein. Am besten, du machst ihn warm.«
    Erst jetzt gewahrte Alaïs, dass sich Schweigen über die Menge gesenkt hatte. Selbst Dulceta hatte zu schluchzen aufgehört, und Pierre stöhnte nicht mehr.
    »Ich brauche Nadel und Faden, Letzterer so dünn wie möglich, am besten aus Seide … Herrgott!«, sie ließ ihren Blick schweifen. »Warum hilft mir denn keiner?«
    »Was hast du vor?«, flüsterte ihre Schwägerin.
    Bis zu diesem Augenblick hätte es Alaïs selbst nicht sagen können.
    Auch jetzt kamen ihr nur leere Worte in den Sinn, ein Zitat von Damascenus, das Aurel einmal gebraucht hatte:
Angeborenes Talent unterstützt unsere Kunst, doch es ist die Natur, die unser Tun anleitet.
    Ja, die beste Lehrmeisterin war die Natur.
    Und an noch etwas anderes erinnerte sie sich, worüber sie Aurel irgendwann einmal hatte

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