Die Gefährtin des Medicus
waren, fühlte sie sich in letzter Zeit viel schneller erschöpft als früher.
»Kinder, langsam!«, schnaufte sie.
»Wir haben sie heute Morgen entdeckt. Gaspard hatte furchtbare Angst. Er wagte kaum, hinzusehen. Aber ich … ich habe eine sogar hochgehoben«, plapperte Régine.
»Wovon redest du?«, fragte Alaïs.
Die Kinder führten sie aus dem Dorf, an jenem Friedhof vorbei, wo Emy und Aurel einst Tote ausgegraben hatten und wo später Aurélie, ihre Erstgeborene, bestattet worden war. Sie stiegen über knorrige Wurzeln, trockene Grasbüschel und spitze hellgraue Steine. Alaïs schnupperte prüfend. Ein übler Geruch lag plötzlich in der Luft, verdichtete sich mit jedem Schritt.
Régine spähte über einen Hügel. »Sie … sie sind immer noch da.«
Nun überwand auch Alaïs die kleine Anhöhe. Als sie erblickte, worauf Régine aufgeregt deutete, kniff sie die Augen zusammen. Sie konnte nicht sofort erkennen, was dort lag. Viele kleine Erdklumpen schienen nebeneinander gehäuft. Doch als sich Réginemutig niederbeugte und einen dieser Erdklumpen mit spitzen Fingern hochhub, schrie Alaïs entsetzt auf.
»Nicht! Lass es sofort fallen!«
Gaspard schrie nun ebenfalls und ließ sich auch dann nicht beruhigen, als Régine den Befehl der Großmutter augenblicklich befolgte. Weinend barg er seinen Kopf an ihrem Kleid.
Die vermeintlichen Erdklumpen waren tote Ratten.
Alaïs zerrte die Kinder zum Meer, Gaspard weinte noch heftiger.
»Ihr müsst euch waschen. Nicht nur eure Hände! Taucht euren ganzen Körper hinein!«
Sie wusste nicht recht, ob es überhaupt notwendig war. Meerwasser war für Wunden besser als gewöhnliches Wasser, doch Régine hatte immer und immer wieder beteuert, dass sie die Ratten bereits tot gefunden hatten und sie von keiner gebissen worden waren. Dessen hatte sich Alaïs zwar mittlerweile auch selbst vergewissert, und doch graute es ihr, wenn sie an den Anblick der toten Tiere dachte. Noch waren sie kaum verwest, aber sie stanken bereits, und wer wusste, welch giftige Dämpfe ihnen anhafteten. Besser war’s, sich gründlich zu reinigen.
Obwohl sie selbst keines der Tiere angefasst hatte, stakste sie nun selbst bis zu den Knien ins Meer, versenkte ihre Hände darin und rieb sie. Ihre Haut war ledrig und fleckig geworden.
»Du auch!«, befahl sie Gaspard, der den Fluten wieder entflohen war, ehe er sich ausreichend gewaschen hatte.
Der Junge sträubte sich. »Ich habe sie nicht angefasst. Nur … nur … nur Régine!«
Diese halbherzige Beteuerung genügte ihr nicht. Sie trat zu ihm, drängte ihn erneut ins Wasser. Régine spritzte ihn an, woraufhin er panisch kreischte.
»Lass ihn in Ruhe!«, schimpfte Alaïs. So streng sprach sie mit der Enkeltochter für gewöhnlich nicht. Die Kleider klebten klamm an ihr, verstärkten das Zittern, das nicht allein von der Nässe kam.
Tote Ratten. Fast ein Dutzend.
»Und ihr habt sie erst heute entdeckt?«
»Gerade eben!«, rief Régine aufgeregt und spritzte wieder nach ihrem Bruder, auch wenn dieser mit heftigem Geheule aufbegehrte. »Deswegen haben wir dich geholt!«
»Ihr habt also mit niemand anderem darüber gesprochen?«, fragte Alaïs.
Régine schüttelte den Kopf. Gaspard entzog sich ihrem festen Griff und flüchtete wieder ins Trockene. Diesmal gewährte es Alaïs ihm.
Auch wenn sie den Kindern einbläute, nichts von ihrem seltsamen Fund zu erzählen, würden die Ratten doch gewiss nicht lange unentdeckt bleiben. Was aber würden die Menschen darüber denken, welch unheilvolles Omen wahrscheinlich darin sehen? Wie ließen sich so viele tote Ratten erklären?
»Geht heim zu eurer Mutter – und sagt auch ihr nichts davon!«, befahl sie den Kindern knapp. Gaspard würde schweigen, da war sie sich sicher, Régine wahrscheinlich nicht. Sie konnte es ihr nicht verübeln.
Ein Dutzend Ratten, ging es ihr wieder durch den Kopf, als die Kinder folgsam in die andere Richtung trabten, ein Dutzend toter Ratten …
Die Sonnenstrahlen, noch gleißender als zuvor – die ersten richtig warmen in diesem Frühjahr – , trockneten die nassen Kleider schnell. Rasch schritt sie zu ihrer Kate. Obwohl sie nicht viele Worte mit Emy wechselte, sie einander oft tagelang nichts zu sagen hatten, konnte sie in einer Sache immer mit ihm reden: wenn es um Krankheiten ging und was sich dagegen machen ließe. Ja, wenn sie ihn wirklich brauchte, war er unauffällig und unaufgeregt zur Stelle.
Vielleicht würde er deuten können, woher die toten Ratten
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