Die Gefährtin des Medicus
stieß sie weg. »Du darfst mich nicht berühren. Mein Odem ist giftig, und du musst gesund bleiben für die Kinder. Es ist zu spät, mich zu umarmen.«
»Aber ich will meinen Frieden mit dir machen. Ich kann nicht gehen, ohne …«
»Damals bist du auch gegangen«, unterbrach Raymonda sie.
»Heute nicht«, bestand Alaïs.
Eine Weile war es still zwischen ihnen. Alaïs versuchte nicht mehr, sie zu berühren, sie zu halten, in sie zu dringen. Es gab nichts mehr zu sagen, nicht für sie. Sie konnte nicht einmal mehr weinen, und auch das Gefühl, noch tiefer zu fallen, schwand. Das Leben ihrer Tochter zerglühte, zerschwitzte, zerbeulte unter ihren Händen. Wie viel konnte sie noch, danach grapschend, von ihrer unsterblichen Seele erglimmen? Entfloh jene nicht längst erleichtert dem faulenden Körper?
»Ich verzeihe dir«, sagte Raymonda leise. »Ich verzeihe dir, dass du mich verlassen hast … damals. Doch jetzt musst du meine Kinder retten. Also geh!«
Sie hielt die Kinder rechts und links gepackt und zerrte sie unsanft mit sich. Obwohl sie nun schon so viele Wochen im verseuchten Saint – Marthe ausgeharrt hatte, war ihr nun, als könnte jeder Augenblick länger tödlich sein.
Régine folgte ihr willig, ja neugierig. Sie war froh, nach dem langen Eingesperrtsein das Haus zu verlassen und mit der Großmutter auf eine Wanderung aufzubrechen – auch wenn sie nicht wusste, wohin diese führte. Gaspard hingegen presste sein Gesicht eng an ihren Leib, verunsichert von dem, was die Großmutter nicht aussprach, aber was in ihrem Gesicht zu lesen stand.
Kaum zehn Schritte waren sie gekommen, als Alaïs den Leichenwagen hinter sich knarren hörte. Es waren nicht Josse und Ricard, die ihn zogen, um die Toten fortzubringen, sondern Luc. Weil zwei nicht mehr reichten? Oder weil sie nur eine kurze Pause einlegten, um nicht sämtliche Kräfte an diesem grausigen Amt aufzureiben?
Luc war ein Enkelsohn der zahnlosen Bethilie, der genauso undeutlich sprach wie diese, obwohl es bei ihm nicht an fehlenden Zähnen lag, sondern an fehlendem Verstand. Während er den Karren zog, lachte er, als wäre es ein Spiel, Tote einzusammeln – wahrscheinlich hatte man ihm das auch eingebläut, auf dass er diese Aufgabe erledigte.
Régine lachte auch. »Was tut Luc mit diesen Bündeln? Was ist darin?«
Alaïs verschwieg ihr, dass es Tote waren, genauso wie sie über Andrius Tod und den drohenden von Raymonda kein Wort verloren hatte. Später, irgendwann später, würde Zeit dafür sein. Jetzt musste sie die Kinder einfach nur aus dem Ort des großen Sterbens fortbringen.
»Ich weiß nicht, was Luc tut«, log sie. »Du weißt doch, dass er ein Dummkopf ist.«
»Ein Riesendummkopf!«, lachte Régine.
Noch schallender lachte Luc. Dann lenkte er den Wagen in Richtung des Hauses von Catherine, Aläis' Base, wo der Tod schon so grausam gewütet hatte und wo wohl auch heute ein Leichenbündel abzuholen war. Alaïs wollte nicht daran denken, wen es getroffen hatte.
Sie zog die Kinder weiter, beschleunigte den Schritt. Später, sagte sie sich wieder, viel später konnte sie darüber nachdenken, nicht jetzt, jetzt musste sie die Kinder retten.
Doch indes Régine ihr – vom sonderbaren Schauspiel, das Luc ihr bot, vergnügt gestimmt – willig folgte, riss sich Gaspard plötzlich von Alaïs’ Hand los und warf sich zu Boden.
»Überall sind tote Menschen!«, kreischte er.
Der Anblick der vielen Dahinsiechenden und Toten war Alaïs nicht so nah gegangen wie sein verzweifelter Aufschrei. Er schien nicht der eines verängstigten Jungen zu sein, sondern der verzweifelte von Mutter Erde, die ohnmächtig ihre Kinder schwinden sah.
»Komm, komm weiter!«
»Überall sind tote Menschen!«
Woher wusste er das, er hatte doch keinen gesehen, oder etwa doch?
Sie bückte sich, zerrte ihn an den Schultern hoch. Régine blickte befremdet auf den Zwillingsbruder, etwas herablassend wie stets und verwirrt. Lucs Wagen war knirschend an ihnen vorbeigerollt.
»Seht nicht hin!«, schrie Alaïs. Aus einem der Leichenbündel lugte eine bräunliche Haarsträhne hervor, sie wusste nicht, wem sie gehörte.
Gaspard barg sich wimmernd an ihrem Kleid. »Ich will nach Hause!«, forderte er.
Alaïs rang mit sich. Vielleicht war es falsch zu lügen, vielleicht sollte sie sagen, dass es kein Zuhause mehr gab, dass es vom schwarzbeuligen Tod gestohlen worden war. Aber da nahm Régine schon die Hand des Bruders und führte ihn mit sich.»Komm!«, sagte sie, und
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