Die Gefährtin des Medicus
nicht, doch die Seuche hatte diesen unscheinbaren Mann nicht verschont, wohingegen sie eine herrische Frau wie sie selbst weiterleben ließ.
Doch dann ward jeder Gedanke an Andriu von Raymondas Anblick vertrieben. Zuerst hoffte sie noch, dass lediglich die Wucht der Trauer sie gebrochen hätte, dann erkannte sie, dass sie am ganzen Leibe zitterte und ihr die Zähne klapperten. Alaïs trat zu ihr, gewahrte, dass sie nicht nur fror, sondern zugleich schwitzte.
Raymonda hob abwehrend die Hand. »Nicht!«, rief sie. »Ich habe es auch …«
Ihre Worte trafen Alaïs wie ein Schlag. Wie die Tochter sackte sie zusammen, unfähig, sich noch länger aufrecht zu halten. Das war unmöglich, dachte sie, um sich freilich gleich zu berichtigen: Möglich war es durchaus, sogar wahrscheinlich. Nur: Es war zu viel. Es war so viel mehr, als ein Mensch ertragen konnte.
»Sag das nicht«, leugnete sie das Offensichtliche. »Du bist nur erschöpft …«
»Mein Kopf zerspringt«, ächzte Raymonda. Sie blieb nicht länger hocken, sondern ließ sich vor der Feuerstelle einfach flach zu Boden fallen, zu schwach, um es noch bis zur Schlafstatt zu schaffen. »Und mein ganzer Leib tut mir weh. Ich kenne die Krankheit. Ich weiß, wie sie sich ankündigt. Bald werden die Beulen kommen … bei Andriu waren sie binnen einer Stunde da …«
Sie tat sich schwer, die einzelnen Worte zu formen, und doch redete sie ausgerechnet jetzt länger mit Alaïs, als sie es je getan hatte. »Mutter … Mutter, du musst mir versprechen …«
Eben noch hatte Alaïs vermeint, sich nie wieder rühren zu können, ja, sich nie wieder rühren zu dürfen. Vielleicht würden der Schmerz, die Ohnmacht, die Angst, der Zorn, das Grauen weniger beharrlich auf sie einhacken, wenn sie sich leblos stellte. Doch nun robbte sie zur Tochter, hob ihren Kopf, um ihn auf ihren Schoß zu betten. In den letzten Stunden schien Raymonda uralt geworden zu sein. Das schwarze, glänzende Haar war stumpf und irgendwie grau. Das glatte Gesicht, in dem sich Emys Züge mit denen ihrer Eltern Caterina und Ray vermischt hatten, jedoch nicht mit ihren eigenen, war zugleich faltig und aufgedunsen. Alaïs strich ihr über die Stirn.
»Sag nichts!«, murmelte sie. »Sammle deine Kräfte. Es sterben zwar viele … aber Aurel meinte, nicht alle. Ich werde versuchen, ich werde …«
»Hör mir zu!«, unterbrach Raymonda sie schroff. »Hör mir zu!«, wiederholte sie. Das Zittern gab den Rhythmus der Worte an, die folgten, doch zumindest brachte sie jedes einzelne hervor. »Wir … wir werden alle sterben in Saint – Marthe. Gott straft uns. Ich weiß nicht, wofür. Aber meine Kinder … meine Kinder soll er in Frieden lassen. Sie sind oben in der Dachkammer, doch du musst sie von dort fortschaffen. Nimm sie und geh mit ihnen, so weit du gehen kannst. Vielleicht ist die Luft anderswo nicht so giftig. Vielleicht ist Gott anderswo noch gnädig.«
Alaïs strich ihr sanft über die Schläfen. Bis auf das Zittern zeigte Raymonda nichts von ihren Schmerzen. Selbst in ihrem Sterben glich sie ihrem Vater in der Bereitschaft, sich dem Tod zu fügen – und zugleich in der Zähigkeit, nicht zu gehen, bis ausreichend Abschied genommen war und nichts unerledigt zurückblieb.
»Raymonda …«, stammelte Alaïs und fand in sich selbst nichts von dieser Entschlossenheit und Festigkeit, nur das Gefühl, immer tiefer und tiefer zu fallen.
»Rette meine Kinder!«, bestand Raymonda. »Bring sie von hier fort!«
»Raymonda, ich bleibe bei dir. Ich bin auch bei Emy geblieben. Ich werde dich nicht allein lassen.«
So angestrengt suchte Raymonda ihren Blick, dass sich ihre Augen kurz ins Weiße verdrehten. Stöhnend versuchte sie, sich aufzurichten, und obwohl Alaïs sie zurückhielt, sie weiterhin in ihrem Schoß betten wollte, gelang es ihr, die fürsorgliche Hand wegzustoßen. Raymonda stützte ihren Kopf an der Mauer. Mehr würgend als sprechend brach es aus ihr hervor.
»Du hast es doch schon einmal zustande gebracht, mich allein zu lassen. Mich und Vater. Warum nicht auch jetzt?«
»Raymonda …«
»Du hast mich nie geliebt, nie von ganzem Herzen. Aber meine Kinder … meine Kinder stehen dir nahe … Ich weiß nicht genau aus welchem Grund. Vielleicht, weil sie anders sind, als ich es damals war. Vielleicht, weil du anders geworden bist.«
»Raymonda, ich konnte damals nicht bleiben, ich …«
Alaïs versuchte wieder, über ihr Gesicht zu streichen, sie zurückzuziehen auf ihren Schoß. Doch Raymonda
Weitere Kostenlose Bücher