Die Gefährtin des Medicus
Nacken hockte, verflüchtigte sich.
Aurel drehte sich nur halbherzig nach ihr um. »Hier«, erklärte er und wühlte im Leib des alten Ricard. »Das ist das Abdomen, jene Region im Leib des Menschen, die die Organe der Ernährung beinhaltet.«
Alaïs wandte den Blick ab. Sie fühlte sich vom langen Schlafen so durcheinander, dass sie ihre Scheu vor dem Toten nicht ähnlich mühelos bezwingen konnte wie noch am Tag zuvor. Da hattesie gewagt, in Ricards Gesicht zu schauen, zu prüfen, ob sein Blick genauso leer war wie jener von Louise. Doch anders als bei der jungen Frau waren seine Augen in Schlitzen versunken. Die Lider wirkten, als wären sie zusammengenäht worden. Die leblosen Augen waren nicht zu sehen – was dem Anblick viel von seinem Schrecken nahm.
»Was ist vorhin am Dorfplatz geschehen?«, fragte Emy und erhob sich aus seiner Ecke. »Ich hörte die Menschen miteinander tuscheln.«
»Insgesamt gibt es sechs Ernährungsorgane«, fuhr Aurel dessen ungeachtet fort.
Alaïs zuckte die Schultern. »Frère Lazaire«, setzte sie an. »Er ist misstrauisch geworden – und die übrigen Menschen von Saint – Marthe sind das inzwischen auch. Die Erde um die Gräber war aufgewühlt.«
Nichts änderte sich in Emys Miene, lediglich die hochgezogenen Schultern kündeten von der Anspannung, die ihn ergriff.
»Sechs also«, sprach Aurel. »Der Bauch, der Darm, das Bauchnetz, die Leber, die Gallenblase, die Milz.«
»Was haben sie noch gesagt?«, fragte Emy beunruhigt.
Wieder zuckte Alaïs die Schultern. »Frère Lazaire hat von Aurel gesprochen …«
»Verdächtigen sie ihn etwa, damit zu tun zu haben?«, rief Emy. Noch nie hatte sie ihn so laut werden hören, und noch nie hatte er die schmalen Augen derart weit aufgerissen.
»Der Darm wiederum besteht ebenfalls aus mehreren Teilen. Auf das
Duodenum
folgt das
Jejunum,
hernach das
Ileum,
das
Cecum,
das
Colon
und das
Rectum …«
Emy hob abwehrend die Hand, als wollte er den Bruder zum Schweigen bringen. Der achtete nicht darauf, umso mehr hingegen Alaïs, die gewahrte, wie Emys Gesichtsausdruck immer panischer wurde.
»Das
Duodenum
ist, wie sein Namen schon sagt, so lang wie …«
»Sei still!«, fuhr Emy ihn an.
Aurel hob verwundert den Blick, befremdet von dem ungewohnt forschen Tonfall.
»Aber es ist doch …«, setzte er an.
Er brach ab, weil er es nun wohl auch hörte – das, was Emy so panisch stimmte und was Alaïs ebenso bemerkte: schleifende Schritte, Gemurmel.
Alaïs und Aurel standen wie erstarrt, während Emeric sich als Erster zu rühren vermochte. »Licht aus!«, zischte er, um sogleich selbst die Fackel auf den Boden zu werfen und sie auszutreten.
Alaïs’ Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Finsternis gewöhnt hatten und erste Konturen daraus erstanden: Emy s und Aureis Gestalt und schließlich der Leichnam des alten Ricard. Der Macht des Sehens beraubt, horchte sie umso angestrengter. Doch da war nichts mehr, kein Raunen, keine Schritte. Erleichtert stieß sie die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte.
Doch in dem Augenblick, da Aurel Emy anhieß, die Fackel wieder zu entzünden, wurde das Tor des Schuppens geöffnet, unendlich leise und unendlich langsam. Sie sahen zuerst die Hand am Tor, dann die Gestalt, die an der Schwelle stehen blieb anstatt einzutreten.
Alaïs seufzte befreit. Gottlob nicht ihre Eltern.
»Mein Gott, Josse!«, fuhr sie den jungen Mann an, und ihre Stimme geriet zänkisch. »Musst du uns so erschrecken?«, rief sie. »Und was hast du überhaupt hier verloren?«
Er blickte sie an wie eine Fremde, trat dann an den Tisch, wo die Leiche lag.
»Die Frage ist doch eher: Was habt ihr hier verloren?«
Seine Stimme klang so abweisend, als hätte er noch nie mit ihr geredet, noch nie versucht, ihr einen Kuss aufzudrücken, als wäre er noch nie des Nachts betrunken vor ihrer Kate gestanden, um eine gemeinsame Zukunft heraufzubeschwören.
»Geh!«, sagte Alaïs forsch. »Geh einfach!«
Josse starrte angewidert auf den Leichnam, woraufhin Aurelsich hastig vor ihn stellte, als müsste er den Toten beschützen. Da er sich nicht rührte, trat Alaïs auf Josse zu, packte ihn am Arm und versuchte, ihn hinauszuziehen.
»Geh!«, sagte sie wieder.
Fünf Schritte folgte er ihr, dann hielt Josse inne und schüttelte ihren Arm ab.
»Nein«, sagte er, und diesmal klang er heiser vor Wut. »Diesmal schickst du mich nicht weg. Régine hat mir gesagt, dass du nichts taugst … und sie hatte
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