Die Gefährtin des Medicus
Gewicht zu mindern, gewahrte sie, dass sie bereits gänzlich nackt war. Nicht den kleinsten Fetzen Stoff trug sie am Leib.
»Vater!«, wollte sie wieder schreien, aber ihre Stimme wurde von salzigem Wasser erstickt. Solange sie den Kopf über der Wasseroberfläche zu halten vermochte, sah sie das Boot, wie es immer weiter hinaustrieb. Doch dann, als es hinter dem Horizont verschwand, ging sie unter. Sie schlug um sich, aber sie konnte sich nicht retten: Das Wasser zerrte an ihr, verschlang sie, erstickte sie …
»Alaïs!«
Sie schlug die Augen auf. Anstatt der kalten Schwärze traf gleißendes Licht ihr Gesicht. Der Vater, den sie eben noch verloren wähnte, hockte am Rand ihrer Schlafstatt und streichelte über ihr Haar. »Was ist mit dir? Du glühst, als hättest du Fieber!«
Sie tastete nach ihrem schweißnassen Gesicht. Nicht das Meer, sondern die Decke aus Leinen hatte sie umfangen, war immer höher gerutscht, bis sie den Kopf bedeckt hatte. Hastig streifte sie sie ab.
»Ich bin nicht krank. Mutter meinte lediglich …«
»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Sie sagte, du seist ständig müde. Bleib nur liegen und ruh dich aus!«
»Warum bist du hier, Vater?«
»Weil ich heute zu den Inseln von Hyères aufbreche.«
Seine Augen glänzten. Obwohl er oft störrisch bekundete, wie sehr das Fischen ihn anödete und er das Meer hasste, wusste sie, dass er die Fahrten nach Hyères genoss. Nicht oft trat er sie an, meist ließ er sich vom Nörgeln der Mutter aufhalten, die meinte, guten Fisch gebe es auch vor Saint – Marthe. Doch guter Fisch allein war’s wohl nicht, der ihn lockte – vielmehr die Freiheit, über mehrere Tage allein zu sein mit sich und der See. Caterina schien genau zu wissen, wann der Drang nach dieser Freiheit übermächtig wurde. Denn alle paar Wochen erstarb ihr Genörgel, und sie nickte zustimmend, wenn er die Fahrt vorschlug.
Aläis richtete sich auf. Früher hatte sie sich stets gewünscht, Ray möge sie zu den Inseln mitnehmen, doch nachdem es ihr zu oft verboten worden war, hatte sie es aufgegeben, ihn darum zu bitten. Meist fuhr er los, ohne sich zu verabschieden, und sie verstand nicht, warum er es heute tat.
»Ich bin wirklich nicht krank«, bekräftigte sie, weil sie zunächst meinte, er wäre von Sorgen getrieben. Doch der Blick, mit dem er sie maß, war nicht ängstlich, sondern vielmehr lauernd.
»Pass auf dich auf, Alaïs«, setzte er an, »dieser
Cyrurgicus …«
»Er heißt Aurel! Und er ist der Beste seiner Zunft!«
»Wie kannst du das sagen, wenn du keinen anderen kennst«?
Sie wich seinem Blick aus, fühlte sich in die Enge getrieben.
»Er ist gut in dem, was er tut«, sagte sie schlicht.
Sein Blick wurde eindringlicher. »Wenn er gut ist, was macht er dann ausgerechnet in Saint – Marthe?«
Ihr Gesicht wurde noch heißer. Kurz wähnte sie sich ertappt, fürchtete, er hätte sie im Schuppen belauert und wüsste ganz genau, was Aurel trieb. Schon lag ihr ein Geständnis auf der Zunge, schon wollte sie ihm zuvorkommen und ihm alles ehrlieh berichten. Wer, wenn nicht ihr Vater, würde Verständnis dafür haben?
Doch ehe sie etwas sagen konnte, wiederholte er lediglich: »Pass auf dich auf, Alaïs.«
Dann hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn, stand auf und stieg nach unten. Sie hörte seine Stimme und die der Mutter, verstand aber nicht, was sie miteinander redeten.
Wenig später blickte sie nach draußen, sah Rays Boot und wie er aufs Meer ruderte. Der gleiche wehmütig pochende Schmerz befiel sie wie im Traum – nur, dass es diesmal keinen Sinn machte, den Vater zurückzurufen.
Als das Boot kaum noch größer war als ein Punkt, legte sie sich wieder auf die Bettstatt. Diesmal war ihr Schlaf traumlos und tief.
Als sie erwachte, war es spät am Abend, und von der Sonne war nur mehr ein milchiger Lichtschein geblieben. Alaïs ging nach unten in die Stube, aß hungrig vom Eintopf, der über der Feuerstelle köchelte. Die Mutter hatte ihn für sie aufbewahrt, ehe sie sich selbst schlafen gelegt hatte. Nachdem Alaïs gegessen und getrunken hatte, fühlte sie sich erfrischt und huschte in den Schuppen. So viel war an diesem Tag geschehen, was sie aufwühlte – die Verdächtigungen von Frère Lazaire, der seltsame Traum, der Abschied von Ray –, dass sie erleichtert war, Aurel bei seiner gewohnten Tätigkeit zu sehen. Mochte die Ordnung des Tages auch durcheinandergeraten sein, die der Nacht war die gleiche geblieben. Die bleierne Schwere, die ihr im
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