Die Gefährtin des Medicus
fragte sich, ob Caterina, die ihn stets so misstrauisch betrachtet hatte, nicht recht gehabt hatte mit dem Urteil, wonach er eher verrückt denn begnadet, eher abartig denn mutig war.
Emy war ihr gefolgt. »Du weißt doch«, versuchte er zu erklären, »du weißt doch, dass der große Chirurg Henri de Mondeville sein Vorbild ist.«
In der Tat hatte sie diesen Namen schon mehrmals gehört und ihn sich als Einzigen gemerkt. »Hat jener etwa auch beim Henker Leichenteile gekauft?«
»Das weiß ich nicht«, meinte Emy. »Aber auf jeden Fall ist er sein Leben lang unverheiratet gewesen, um keine anderen Pflichten zu haben als einzig die, den menschlichen Körper zu erforschen.«
Alaïs lag manches auf der Zunge. Dass sie gewiss keinen Gatten brauchte, niemals einen solchen gewollt hatte, stattdessen Freiheit, die man bei einem Mann, der sich um kein Gesetz der Welt scherte, doch finden sollte. Nun gut, Freiheit hatte sie gefunden, und es war aufregend, mit ihm nach der Macht zu greifen, über Leben und Tod zu entscheiden – doch nicht immer, nicht ausschließlich! Sie mochte den Geruch nach Blut und Eiter und Tod ertragen – vorausgesetzt, er würde zwischendurch von frischer Luft verweht. Aurel aber schien keinerlei Abwechslung zu suchen, schien immer nur dasselbe zu wollen, in jener eintönigen Manie, mit der die Männer von Saint – Marthe ihre Fische fingen, blind für alles, was sonst geschah!
Das, was ihr eben noch so viel bedeutet hatte – die Nächte mit ihm zu durchwachen –, es konnte doch unmöglich alles sein, was ihr das Leben mit ihm einbrachte!
Ehe sie jedoch ihren überdruss in einer wilden Tirade entladen konnte, kam ein Fremder auf sie zugehumpelt.
»Ich suche den Medicus!«, rief er.
Aus dem Augenwinkel nahm Alaïs wahr, wie Aurel augenblicklich den Kopf hob, den Fremden musterte.
Das war ihr zu viel. Den Kranken sieht er, aber mich nicht, dachte sie. Diesmal stürmte sie so schnell davon, dass Emy ihr nicht folgen konnte. Vielleicht versuchte er es auch gar nicht.
Trotzig blieb sie unter einem Maulbeerbaum sitzen, wo die beiden Brüder sie nicht sehen konnten, und ereiferte sich im Stillen über sämtliche Zumutungen des Lebens. Hatte sie nicht tagein, tagaus diese grässlichen, stinkenden Säfte und Pasten gebraut, ohne dass ihr Anerkennung widerfuhr? Wusste sie, wenn Aurel einen Kranken behandelte, nicht stets im Voraus, was er als Nächstes brauchte? Doch auch dafür kein Lohn. Und schließlich, und dieser Gedanke biss sich am hartnäckigsten in ihrem Kopf fest: Würde es nun immer so weitergehen?
Ihr Heimweh und ihre Sehnsucht nach den Eltern waren meist nicht über ein kurzes Hadern hinausgegangen. Nun hatte sie plötzlich mit den Tränen zu kämpfen, wenn sie an ihren Vater dachte, an den lustigen Spott, der er gerne mit anderen Menschen trieb, oder die Geschichten, die er zu erzählen wusste. Sie weinte auch um ihre Mutter, die zwar ein wenig zu streng war, aber zugleich immer fürsorglich, immer zur Stelle, wenn dieTochter in Nöten war – nicht nur auf deren alltägliches Wohl bedacht, sondern auf ihr Lebensglück. Letzteres schien ihr plötzlich verspielt, und auch wenn sie den eigenen Fehler einsah, falsche Erwartungen gehabt zu haben, gab sie Aurel doch die noch größere Schuld an ihrem Schicksal. Seinetwegen hatte sie die Heimat verloren. Seinetwegen irrte sie durch die Welt ohne klares Ziel vor Augen.
Sie fluchte im Stillen auf ihn, bis die Tränen versiegten. Noch blieb sie hocken, wollte sich nicht die Blöße geben, mit rot verquollenen Augen zurückzukehren, doch irgendwann setzte ihr das Alleinsein zu, und sie rappelte sich auf, um wieder zu ihrem Lager zu trotten.
Dort blieb sie unbeachtet, denn noch immer war der Fremde zugegen, der Aureis Hilfe gesucht hatte. An seinem Gehabe ließ sich nicht erkennen, woran er litt – und auch Aureis absonderliche Untersuchungen machten es nicht augenscheinlicher. Zunächst ließ er den Mann singen, dann nahm er eine seiner Nadeln und stach ihm in den Daumenballen. Zuletzt ließ er ihn zur Ader und schwenkte das Blut unter genauer Betrachtung in einem Kelch.
»Was zum Teufel tut er da?«, fragte Alaïs Emy. Sie klang immer noch vorwurfsvoll, als wäre die Tatsache, dass sie es nicht wusste, nur eine weitere Zumutung in jener langen Kette an Kränkungen.
»Der Mann denkt, er könne vom Aussatz befallen sein«, antwortete Emy.
Unwillkürlich wich Alaïs zurück. Sie hatte noch niemals einen Aussätzigen aus der Nähe
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