Die Gefährtin des Medicus
länger angewidert, sondern stolz. Ja, wenn ich es gewollt hätte, ich hätte ihn küssen können, ihn halten, ihn umarmen, ihn nicht wieder loslassen …
»Ja, ja«, rief sie ihm höhnisch hinterher, und jener wohlige Schauder, den sie eben noch fast schmerzhaft vermisst hatte, rann über ihren Rücken. »Flieh nur zu deinem Leichenarm!«
Emy floh nicht. Ihr sonderbares Treiben war ihm gewiss nicht entgangen. Doch nun saß er mit gesenktem Blick auf dem Boden, die Beine überkreuzt und wie so oft an einem Grashalm kauend. Seine Lippen zuckten verräterisch – war es ein Ausdruck der Belustigung oder des Entsetzens?
Nun prustete sie selbst los und kicherte so lange, bis aus ihrem Lachen ein Würgen wurde und aus schriller Belustigung Erschöpfung. Nichts blieb von ihrem Triumph, als sie schließlich sah, wie Aurel in der Ferne wieder den Leichenarm hochhob und sich in seine Arbeit vertiefte.
Ja, sie hätte ihn küssen können, aber sie hatte es nicht getan.
Emy hob fragend den Kopf.
»Was ist?«, fuhr sie ihn an, und der Zorn kehrte wieder, giftiger als zuvor, nur diesmal ohne Ziel, auf das sie ihn hätte richten können.
»Nichts. Gar nichts«, sagte er rasch.
Indes sie verärgert aufstampfte, zuckte Emy nur mit den Schultern und kaute weiterhin an seinem Grashalm.
Still verliefen die nächsten Tage. Emy hatte schon immer an Worten gespart, doch nun erwies sich auch Aurel als ausgesprochen maulfaul. Alaïs wusste nicht, ob er verwirrt war oder ärgerlich, ob er über ihre scharfen Worte und ihren unvermuteten Angriff nachdachte oder vielmehr befremdet war, dergleichen überhaupt ertragen zu müssen. Sie versuchte nicht, es zu ergründen, sondem wich seiner Gesellschaft aus und war auch nicht bereit, ihm wie sonst zur Hand zu gehen.
So trüb wie ihre Stimmung war das Wetter. Kühler Wind blähte ihre Kleidung, alsbald folgte Nieselregen. Alaïs fröstelte, umso mehr beim Anblick der an dieser Stelle breiter werdenden Rhône. Abgründig deuchte sie das dunkle Wasser, ganz ohne die Lieblichkeit von glitzernden Sonnenstrahlen. Das Tosen glich einem unheilvollen Chor ertrunkener Kreaturen, die äste der Bäume, die in Ufernähe schwer ins Wasser hingen, wirkten wie ein unentwirrbares Dickicht.
Sie war erleichtert, in ein Dorf zu kommen – von Menschenhand errichtet, nicht von der geheimnisvollen Mutter Erde. Doch als Emy dessen Namen nannte, befielen sie wehmütige Erinnerungen.
An neuen Orten reizten sie die fremden Menschen. Doch der Name Tarascon war ihr vertraut, denn hier wurde die heilige Martha in gleicher Weise verehrt wie in ihrem Heimatdorf. Ihr Vater hatte ihr einst von dem Ungeheuer Tarasque erzählt, das hier wütete, schließlich aber von Martha von Bethanien bezähmt wurde, die mit ihren Geschwistern Maria und Lazarus in die Provence gekommen war. Die Bewohner, die wochenlang von dem Ungeheuer heimgesucht worden waren, hatten sich freilich nicht davon beschwichtigen lassen, dass sich im Angesicht der Heiligen seine böse, gefährliche Natur gewandelt hätte, sondern töteten es dennoch. Mit wüstesten Geräuschen hatte Ray den Untergang der armen Kreatur ausgeschmückt, mit Krächzen und Niesen, Kreischen und Getrommel, und obwohl Caterina mahnte, er möge das Kind nicht unnötig erschrecken, hatte Alaïs heftig gelacht.
Heute gab es nichts zu lachen. Der Marktplatz, der sie erwartete, war fast leer. Obwohl der Nieselregen endlich nachließ, hielt das kühle Wetter die Menschen in den Häusern.
Viel lahmer als sonst und ziemlich unschlüssig begann Emy, Aurel als kundigen Medicus anzupreisen. Alaïs achtete nicht auf seine Worte, sondern suchte in einer Nische der steinernen Kirche Zuflucht, wo sie müde und immer noch fröstelnd auf den Boden sank. In Aureis Gesicht hingegen breiteten sich Unrast und Missmut aus.
Unwillkürlich grinste sie und gönnte ihm die erzwungene Untätigkeit von ganzem Herzen. Sollte er sich nur zu Tode langweilen! Sollte er an dem schlechten Wetter nicht minder leiden als sie! Sollte er nur fühlen, wie es war, den eigenen Willen nicht zu bekommen!
Das Schicksal freilich, so musste sie alsbald feststellen, gebär – dete sich nicht ähnlich rachsüchtig wie sie. Kaum hatte Emy begonnen, seine üblichen werbenden Worte zu sprechen – er setzte darauf, dass jene Menschen, die hier am Marktplatz fehlten, hinter geschlossenen Fenstern hockten und von dort aus lauschten –, da stürzte aus einem der Häuser eine Mutter, ihr Antlitz sichtlich erregt, und rief
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