Die Gefährtin des Medicus
Lippen – es kaute lustlos – waren wulstig.
Alaïs wagte nicht, näher zu treten, aber sie betrachtete das Tier fasziniert. War es eine Missgeburt? Aber warum hatte man es dann nicht getötet, sondern gab ihm ganz allein einen Stall?
»Das ist ein Kamel«, sagte plötzlich eine leise Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und fühlte sich ertappt – sah dann jedoch keinen gestrengen Stallmeister, der sie zur Rede stellte, sondern ein Mädchen. Es reichte ihr kaum bis zu den Hüften, war ebenso klein wie zart und hatte doch so feine Züge, dass Alaïs vermeinte, in das Gesicht einer erwachsenen Frau zu sehen.
»Ein Kamel?«, fragte sie. Ihr Blick glitt über die Gestalt des Kindes. Es trug ein helles Kleidchen, und die Haare, fast weißblond, waren sauber und gekämmt.
»Darauf reiten die Männer, die viel weiter im Süden leben und viel weiter im Osten«, belehrte sie das Kind mit ernster Stimme.
»Und was macht es dann hier im Stall?«
Sie trat näher und blickte in kohlschwarze Augen, die nicht zum hellen Haar passten. Das Mädchen blieb seltsam reglos, als wäre es im Boden verwurzelt. Ein befremdendes Kind. Alle anderen Kinder, die Alaïs kannte, tollten oder quengelten, plärrten oder stotterten, waren verrotzt oder mit blauen Flecken übersät, mit Schrammen und mit Dreck. Ihr Blick fiel auf die Füße des Mädchens. Sie waren nicht nackt, sondern steckten in dünnen Lederschuhen.
»Das Kamel stammt von Robert«, erklärte das Mädchen indes. Es warf einen fragenden Blick auf Alaïs, und als sich in deren Gesicht nur weiteres Unverständnis ausbreitete, setzte es hinzu: »Robert ist der König von Neapel und der Provence. Ihm gehört auch Avignon, aber er lässt den Papst hier residieren. Und wenn er hierher auf Besuch kommt, dann bringt er dem Papst Geschenke mit.«
»Und darunter war auch dieses Kamel?«, fragte Alaïs. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser alte, mürrische Mann, den sie einmal gesehen hatte, sonderlich Freude an dem Tier fände. Deswegen stand es wohl auch angebunden hier.
»Manchmal bekommt der Papst auch Ochsen geschenkt«, fuhr das Mädchen ernsthaft fort.
Irgendwie passend, dachte Alaïs grinsend, dass es ein Ochs und kein wilder Hengst ist.
»Und junge Hirsche«, sagte das Kind. »Dafür sind aber andere Ställe angemietet worden.«
»Mir scheint, du weißt sehr viel über das Leben in Avignon.«
»Ich wurde hier geboren!«, stieß das Mädchen hervor, als wäre dies ein Gut, auf das man besonders stolz sein und mit dem man wuchern konnte.
»Und deine Eltern wissen, dass du dich hier herumtreibst?«
Damit schien Alaïs einen wunden Punkt berührt haben, dennaugenblicklich senkte das Mädchen seinen Blick. Im nächsten Moment ertönte prompt lautes Rufen.
»Roselina!«, klang es. »Roselina!«
»Ist das dein Name?«, fragte Alaïs.
Das Mädchen nickte kleinlaut, sah sich dann um, als könnte es sich hier irgendwo verstecken, aber entschied sich seufzend dagegen. Das Kamel glotzte träge.
»Roselina, was treibst du hier? Du sollst mit keinen … Fremden reden!«
Ein Schatten erschien an der Tür. Er gehörte wohl zur Mutter des Mädchens. Obwohl Alaïs im Gegenlicht ihr Gesicht nicht erkennen konnte, war ihr die Stimme nur allzu vertraut. Roselina war die Tochter von Marguerite.
Wortlos ging Marguerite an Alaïs vorbei, ergriff die Tochter am Arm und wollte sie schweigend aus dem Stall ziehen. Zunächst versteifte sich das Kind, schien alle Macht darein legen zu wollen, hierbleiben zu dürfen. Doch offenbar hatte es zu oft die Erfahrung gemacht, dass die Mutter die Stärkere war, und die Gegenwehr erlahmte. Willig folgte Roselina Marguerite.
Als die beiden den Stall fast verlassen hatten, erwachte freilich Alaïs’ Widerstand. Nicht, dass ihr sonderlich viel an der Gesellschaft eines Kindes lag. In Saint – Marthe hatte sie Kinder immer gemieden und nie verstanden, wenn Gleichaltrige mit glänzenden Augen von Mutterschaft sprachen, als wäre das ein wahrhaft erstrebenswertes anstatt lediglich aufgezwungenes Lebensziel. Doch sie wollte sich nicht zur dreckigen Dienstbotin abstempeln lassen, deren Umgang Marguerite für ihre Tochter offenbar zu unfein schien. Obendrein – auch das musste sie anerkennen – war Roselina ein Kind jener Art, mit dem sich reden ließ wie mit einem Erwachsenen. Und es gab nicht viele Menschen in Avignon, denen sie Fragen stellen konnte, um mehr über die Stadt und ihre Gebräuche zu erfahren.
»Was denkst du eigentlich, wer
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