Die Gefährtin des Vaganten
seinen Füßen eine nackte Gestalt.
Piet hielt ein weiteres Messer wurfbereit in der Hand.
»Ritter von Hane!«, keuchte Melle.
»Freund!«, flüsterte der noch einmal.
»Ungewöhnlicher Freund«, knurrte Piet.
»Wollte ihn befreien.«
»Ihr?«
»Kann nicht mehr. Glaubt mir.«
Melle trat trotz Piets gezischter Warnung näher zu ihm und leuchtete in sein Gesicht.
»Warum?«
Es lag eine so bodenlose Trauer in der Miene des Mannes, dass sie beinahe Schmerz verspürte.
»Frau Laure. Ich helfe Euch. Ihr seid seine Tochter, nicht wahr?«
»Ja.«
»Gut. Ich weiß den Weg nach draußen. Mein Quartier.«
Piet hatte den Dolch gesenkt. Doch sein Blick durchbohrte den Ritter förmlich.
Hagan stöhnte.
»Piet!«, sagte Melle bittend.
»Gut denn. Aber nicht Euer Quartier. Wir haben einen Wagen.«
»Besser. Wo?«
»Holzgasse.«
»Bringt ihn nach vorne. Und eilt, es kommen nachher noch Leute.«
»Wächter?«
»Meine Sorge.«
Piet verschwand lautlos, Melle kniete neben ihrem Vater nieder. Er sah zerschlagen aus, grau, blutig. Aber er lebte. Sie strich ihm sacht über die Haare. Dann wischte sie sich die eigenen nassen Wangen ab. Weinen durfte sie erst später.
Piet kehrte zurück.
»Bertrand führt den Wagen in die Witschgasse. Wir brauchen eine Decke.«
Der Ritter zeigte neben Hagan auf den Boden.
»Habe ich mitgebracht.«
Als sie den Bewusstlosen hineinrollten, stöhnte er. Er stöhnte auch, als der Ritter ihn sich über die Schulter legte. Dann wies er auf die Tür. Melle nahm das Licht wieder auf, das des Ritters löschte sie.
»Das Frettchen …« fiel ihr plötzlich ein.
»Lass es hier.«
»Es wird …«
»Dein Vater oder das Frettchen, Melle.«
Sie nickte, das Maß der Trauer war ohnehin schon voll.
Der Ritter wies auf den Gang und eine weitere Tür. Piet, wieder den Dolch wurfbereit, ging voran.
»Öffne, Kind«, raunte er.
Sie machte die Tür auf und sah die Treppe hoch. Oben brannte ein Licht. Aber auch hier war alles ruhig. Piet ging voran, der Ritter mit Hagan folgte.
Ein Mann lag an der Wand auf dem Boden, die Kehle aufgeschlitzt.
Der Türwächter.
Piet warf dem Ritter einen Blick zu. Dann öffnete er die Tür, die auf die Witschgasse führte. Der Geruch, der sie anwehte, war unverkennbar.
»Scheiße«, murmelte der Ritter.
»So ist es.«
Einigermaßen sacht legte er den in eine raue Decke gewickelten Hagan neben die beiden Fässer auf den Karren. Bertrand, der den struppigen Gaul hielt, fragte: »Welches Tor?«
»Eigelstein.«
Still folgten sie dem stinkenden Nachtkarren in einigem Abstand.
Das Kloakenreinigen mochte zu den unehrlichsten, verachtetsten Berufen gehören, aber es war notwendig in einer eng bewohnten Stadt. Die schmutzige Tätigkeit der Goldgräber barg aber auch einen Vorteil. Für sie wurden nachts die Stadttore geöffnet, damit sie die Fäkalien draußen auf den Feldern abladen konnten, wo die Bauern sie zum Düngen der Felder verwendeten.
Als ein Nachtwächter mit seiner Laterne auf sie zukam, wollte Melle fast das Herz stehen bleiben. Doch der Mann verwies sie lediglich harsch auf eine andere Straße, die sie zu benutzen hatten. Besonders nahe kam er dem Gefährt nicht.
Sie näherten sich der Stadtmauer, und Bertrand drehte sich um.
»Nicht wir alle.«
»Nein, du mit der Fracht. Wir kommen in der Frühe nach«, beschied ihm Piet.
»Wo treffen wir uns?«
»Leg eine Fährte. Rheinufer. Und hier, falls er aufwacht.« Piet reichte ihm das Töpfchen mit dem Heilmittel: »Laudanum.«
Sie blieben zurück, während Bertrand und das Gefährt zum Tor zockelten.
»Was für eine Fährte?«, wollte Melle wissen.
»Er ist ein Schnitzer, wir werden markierte Holzstückchen finden. Wir haben das schon häufiger gemacht.«
»Vagantenleben«, sagte der Ritter.
»Richtig.«
»Ich muss aus der Stadt heraus.«
»Und wir sollten Euch dabei helfen?«
Der Ritter zuckte mit den Schultern.
Melle gewahrte wieder die Traurigkeit in seinen Zügen und schubste Piet an.
»Er hat uns auch geholfen.«
»Weiß Gott, warum.«
»Vielleicht sagt er es uns?«
Sie sah den Ritter an.
»Ich sage es Euch. Aber nicht hier.«
»Nun gut, dann kommt mit.«
Etwas war anders. Der Gestank, er raubte ihm fast den Atem. War er schon auf dem Weg in die Hölle? Auf einem außerordentlich holprigen Weg?
Und doch war etwas anders. Die Schmerzen in seinen Schultern waren anders. Und als er eine kleine Bewegung machte, kreischten zwar seine Sehnen, aber – er war nicht mehr
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