Die Gefahr
Schilf ein Alligator lauerte. Er stand unentschlossen am Heck des Bootes und wartete. Er konnte entweder blind an Land springen oder eine Taschenlampe einschalten. Während er dastand und gegen seine Angst ankämpfte, bewegte sich plötzlich etwas im hohen Gras – und das brachte ihn schließlich zum Handeln.
Er bückte sich rasch und griff nach der Taschenlampe und einer Limonadedose. Er richtete den Strahl der Lampe nach unten und warf die Dose ins hohe Gras. Erneut bewegte sich etwas, diesmal sehr rasch, und al-Yamani sah es ganz kurz, als es ins Wasser huschte. Es war ein behaartes Tier und ganz bestimmt kein Alligator. Er ärgerte sich über sich selbst; was immer da draußen herumkroch, es hatte wahrscheinlich mehr Angst vor ihm, als er vor diesen unbekannten Kreaturen hatte. Er nahm seine Tasche und blickte sich noch einmal kurz um, bevor er ans Ufer sprang.
Er landete auf einem Bein und taumelte kurz, ehe er das Gleichgewicht wiederfand. Einer der Hauptgründe, warum sich al-Yamani nicht einfach verkleiden und mit dem Flugzeug in die Vereinigten Staaten einreisen konnte, war, dass er am rechten Bein eine Unterschenkelprothese trug. Mit sechzehn Jahren war der junge Araber nach Afghanistan gegangen, um gegen die Sowjets zu kämpfen. Dort verlor er durch eine Landmine seinen rechten Unterschenkel – doch dank der Prothese, die er bekam, konnte er ein ganz normales Leben führen. Eines aber konnte er mit Sicherheit nicht – nämlich unbemerkt durch einen Metalldetektor an einem Flughafen gehen. Ein Maulwurf im saudiarabischen Geheimdienst hatte ihm mitgeteilt, dass die Amerikaner alles über ihn wussten. Al-Yamani stand auf jeder Watchlist, und es wäre nicht allzu schwer gewesen, einen Araber zu entdecken, dem ein Unterschenkel fehlte.
Er schlich geduckt die Uferböschung hinauf. Als er oben ankam, blieb er im hohen Gras stehen und suchte die Straße ab. Wie erwartet, war nichts zu sehen. Die Straße namens Black Point Drive wurde vor allem von Touristen und Naturfreunden benutzt, um die Wildtiere des Naturschutzgebietes zu beobachten.
Er sah die Lichter eines herannahenden Autos, konnte es aber noch nicht hören. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und seine Handflächen wurden feucht. Der Wagen kam genau auf ihn zu. Al-Yamani legte sich flach auf den Boden und ließ den Kopf unten. Das Motorengeräusch wurde lauter, bis der Wagen schließlich anhielt. Wenige Augenblicke später gingen auch die Scheinwerfer aus, so wie es vereinbart war. Wenn der Wagen weitergefahren wäre, so hätte das bedeutet, dass der Fahrer glaubte, verfolgt zu werden.
Al-Yamani hob den Kopf so weit, dass er durch das hohe Gras blicken konnte. Auf der anderen Straßenseite sah er, wie angekündigt, einen silberfarbenen Ford Taurus stehen. Die Tür an der Fahrerseite ging auf, und ein Mann stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. So weit, so gut. Al-Yamani beobachtete ihn ein Weilchen und stand schließlich auf.
Der Mann sah ihn nicht gleich, als er aus dem hohen Gras kam. Al-Yamani war schon auf der Straße, als er leise sagte: »Allahu akbar.«
Der Mann wirbelte nervös herum und ließ beinahe die Zigarette fallen. Mit geweiteten Augen sprach er seinerseits die vereinbarten Worte, wenn auch mit etwas zittriger Stimme.
Al-Yamani nahm das als gutes Zeichen. Wenn der junge Mann aufgeregt war, so bedeutete das, dass er die Sache wirklich ernst nahm. »Bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«, fragte er auf Arabisch.
»Ja. Ich war zwei Monate nicht in meiner Moschee, so wie du es mir gesagt hast.«
Al-Yamani nickte zufrieden und umarmte seinen Helfer. Fürs Erste würde er ihn am Leben lassen.
15
WASHINGTON D.C.
Irene Kennedy hatte die letzten zwei Stunden damit zugebracht, ihrem Sohn bei seinen Hausaufgaben zu helfen. Es war spät, sie war müde, und sie hätten beide längst im Bett sein sollen. Tommy war nur noch für drei Tage ein Erstklässler und ungeheuer stolz darauf, in der Hackordnung seiner Grundschule bald ein Stück weiter oben zu stehen. Irene Kennedy war vor allem froh, dass er nicht mehr Mrs. Johnson als Lehrerin haben würde. Es war die letzte Woche vor den Sommerferien, und sie gab immer noch Hausaufgaben, als stünden sie mitten im Schuljahr.
Irene schickte ihren Sohn zum Zähneputzen in sein Badezimmer und ging den Flur hinunter, um sich ein Bad einzulassen. Als sie zurückkam, lag er bereits im Bett. Er hatte sich wohl das Zähneputzen geschenkt, doch Irene war zu müde, um ihn deshalb
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