Die Gefahr
zur Rede zu stellen. Er war ein guter Junge, der sich zu benehmen wusste, er hatte gute Noten in der Schule und stellte keinen gröberen Unfug an. Ein Loch in einem Zahn würde ihn gewiss nicht umbringen.
Irenes Devise war es, jeden Tag mit einem positiven Gedanken zu beginnen und ebenso ausklingen zu lassen. Das versuchte sie wenigstens in den eigenen vier Wänden zu beherzigen; im Beruf war das ohnehin nicht möglich. Sie hatte kaum einen Einfluss darauf, was die Leute taten, mit denen sie zu tun hatte – die Politiker, der Präsident und seine Berater, die Medien und bisweilen sogar ihre eigenen Leute in Langley. Irene Kennedy hörte zu, wie Tommy sein Nachtgebet sprach, und küsste ihn auf die Stirn.
»Ich hab dich lieb, mein Schatz.«
Er drehte sich von ihr weg und sagte: »Ich hab dich auch lieb.«
Sie spürte, dass er ihr irgendwie entglitt. Fast schien es ihr, als sei es gestern gewesen, dass sie ihn jeden Abend ins Bett getragen und dass er ihr in die Augen gesehen hatte, wenn er ihr sagte, dass er sie lieb hatte. Jetzt kam er in dieses komische Alter, in dem Mädchen und auch Mütter eher lästig waren. Irene strich ihm über den Rücken, bevor sie aufstand und ging.
Nachdem Tommy im Bett war, konnte sie sich um sich selbst kümmern. Sie freute sich auf ein schönes heißes Bad. Für eine gute halbe Stunde würde sie höchstens an banale und unwichtige Dinge denken. Sie trat in den kleinen begehbaren Schrank und zog sich aus, bevor sie ins Badezimmer hinüberging. Die altmodische Wanne mit Klauenfüßen war halb voll mit dampfend heißem Wasser. Irene goss Badeöl in die Wanne und drehte den Wasserhahn zu. Jetzt musste sie nur noch die nächsten drei Tage überstehen, dann würden sie ein schönes erholsames Wochenende zusammen verbringen. Sie und Tommy und ihre Mutter wollten Verwandte an der Küste besuchen. Es würde ein Wochenende voller Sonne, Meer und Spaß werden. Ein idealer Start in den Sommer. Zumindest hoffte sie, dass es so werden würde – doch die Pflicht konnte sie jederzeit rufen, und dann würden ihre Mutter und Tommy das Wochenende am Meer ohne sie verbringen müssen.
Sie wollte gerade ins Wasser steigen, als der Augenblick der Stille durch ein allzu vertrautes Geräusch gestört wurde. Irene Kennedy war normalerweise durch nichts aus der Fassung zu bringen, doch in diesem Moment starrte sie das weiße Telefon ziemlich böse an. Sie wusste, wenn sie nicht abhob, würde der Agent, der für ihr Sicherheitsteam verantwortlich war, nach oben kommen und höflich an ihre Schlafzimmertür klopfen.
Sie nahm ihren Bademantel vom Haken an der Tür und ging zum Nachttisch hinüber. Ohne Brille hatte sie etwas Mühe, die kleinen Buchstaben auf dem Display zu lesen. Der Anruf kam offensichtlich vom Global Operations Center der CIA. Irene griff nach dem Hörer und sagte mit müder, aber gefasster Stimme: »DO Kennedy.« Die Stimme am anderen Ende klang rau und weit entfernt. »Irene, hier spricht Mitch.«
Irene sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war fast zehn, und das bedeutete, dass es dort, wo Rapp sich aufhielt, fast sechs Uhr morgens war. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja …«
»Wo bist du?«
»Wir sind auf dem Rückweg über die Grenze. Hör mal, ich will dich nicht erschrecken, aber wir haben in diesem Dorf ziemlich brisantes Material gefunden. Ruf bitte die CTC-Leute für Südwestasien ins Büro, und ruf auch den Stationschef in Kandahar an. Sag ihm, dass er mir alles zur Verfügung stellen soll, was ich brauche – vor allem Übersetzer.«
Irene Kennedy runzelte beunruhigt die Stirn. »Hast du Hinweise auf eine ernste Bedrohung?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Warum dann die Hektik?« Wenn sie schon die ganze Maschinerie ihrer Organisation in Bewegung setzen sollte, dann brauchte sie dafür einen handfesten Grund.
»Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass wir uns beeilen sollten.«
Irene hörte an seiner Stimme, dass er sehr beunruhigt war. »Mitch, jetzt sag mir schon, was los ist.«
Rapp zögerte einige Augenblicke. »Hör zu, ich will ja nicht gleich Alarm schlagen, bevor wir uns die Sache nicht etwas genauer angesehen haben«, sagte er dann bedächtig, »aber wir haben einen Raum unter dem Zielhaus gefunden.«
»Was denn für einen Raum?«, fragte Irene.
»Da war jede Menge Material gelagert – das meiste davon in Paschtu, aber einiges auch in Arabisch. Wir haben auch Computer und Landkarten gefunden.«
»Und?«, fragte Kennedy, wohl wissend, dass da noch
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