Die geheime Braut
rundlichen Wangen hatten Tränen ihre salzigen Spuren hinter lassen.
»Elsi«, stieß er hervor. »Kleine Elsi – zum Himmel geflogen.«
*
Irgendwann verlor Jan jedes Gefühl für Zeit und Raum.
Die Wände des engen Raums schienen sich abwechselnd auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, die Zeit tröpfelte unendlich langsam dahin, um unversehens so rasch zu vergehen, dass ihm schwindelig wurde.
Dazu kam das schwere nasse Tuch auf dem Gesicht, das ihm jegliche Sicht raubte – und zunehmend den Atem.
Sein Kopf hing tiefer als der restliche Körper.
Der Scharfrichter hatte ihn auf dem schrägen Brett festge bunden mit Stricken, die um massive Eisenhaken in der Wand geschlungen und festgeknotet waren. Je ungestümer Jan nun versuchte, sich zu bewegen, umso tiefer schnitten die Stricke in sein Fleisch.
Mindestens ebenso unerträglich wie die Schmerzen in Armen und Beinen und das Wasser, das immer wieder auf das Tuch gegossen wurde und ihm unbarmherzig Mund und Nase blockierte, war die bohrende Stimme, die bis in sein Innerstes zu dringen schien.
»Warum hast du sie getötet?«, schrie Altenstein. »Rede endlich, sonst wirst du wie ein tollwütiger Köter ersäuft! Hat sie dich angespuckt, als du deine dreckigen Finger nach ihr ausgestreckt hast? Das würde zu meiner Dilgin passen.«
Jan strampelte, gurgelte, versuchte, einen Laut hervorzubrin gen – vergeblich.
»Wie konntest du es wagen, sie anzusehen – geschweige denn, sie zu berühren? Besudelt hast du sie. Und mich dazu. Unseren ganzen Stand hast du mit deiner verderbten Geilheit in den Dreck gezogen. Dafür wirst du büßen!«
Während Jan spürte, wie sein Widerstand mehr und mehr erlahmte, schien Altenstein immer munterer zu werden.
»Die Wahrheit!«, schrie er. »Ich will endlich die Wahrheit hören! Mach dein verdammtes Maul auf, du elender Verbrecher – und gestehe!«
Jan brachte lediglich ein Gurgeln hervor.
»So wird das nichts, Edler von Altenstein«, sagte der Scharfrichter. »Wenn man ihnen keine Gelegenheit zum Reden gibt, dann sagen sie auch nichts. Außerdem hat der Kurprinz ver fügt, dass bei Seman vorerst keine Folter eingesetzt werden soll. Er wird ihn später höchstpersönlich inspizieren. Wir sollten also besser vorsichtig sein.«
»O doch! Er wird reden, das garantiere ich dir, Schiffer!« Altensteins Stimme überschlug sich beinahe. »Und wie er reden wird! Wer spricht hier von Folter? Siehst du vielleicht irgendwo eine Streckbank oder den Spanischen Stiefel? Der Kurprinz wird ihn unversehrt vorfinden, aber äußerst geständig. Also, mach gefälligst weiter!«
Der nächste Schwall drohte Jan zu überfluten.
Als Kind war er einmal beim kühnen Balancieren vom Ge länder der Karlsbrücke abgerutscht und in die Moldau gestürzt. Nur die Geistesgegenwart eines jungen Fischers hatte ihn gerettet, weil der in den Fluss sprang und ihn ans Ufer holte. Jene kurzen Momente unter Wasser, in denen alles ver schwamm und eine mächtige Kraft ihn in die Tiefe zog, waren jahrelang in Jans Träumen wiedergekehrt.
Nicht viel anders war es auch jetzt. Nur dass er die Wellen damals trotz seiner Angst als weich empfunden hatte, als starke, gleichzeitig aber auch sanfte Arme, die ihn umfingen.
Heute jedoch war das Wasser, das auf ihn schwappte, hart und unbarmherzig, ein Feind, der ihm nach dem Leben trachtete und keinen Ausweg zum Entkommen zuließ.
Jan war beinahe erleichtert, als das Dunkel immer näher kam, bis es ihn gänzlich verschlang.
*
Susanna hatte den kleinen Umweg zum Elbufer eingeschlagen, bevor sie ins Luther-Haus zurückkehrte.
An Verstecken war nicht länger zu denken.
Inzwischen war heller Tag, und die Kunde von Jans Gefan gennahme würde in Wittenberg rasch die Runde machen. Au ßer dem konnte sie nicht mit Barbara Cranachs Schweigen rechnen. Ganz im Gegenteil – die Cranachin brannte vermutlich bereits darauf, ihrer Freundin Katharina ausführlich mitzuteilen, was sich in ihrem Haus abgespielt hatte.
Und der Meister selbst?
Beim Gedanken daran, dass sie ihm Jans Zeichnungen an vertraut hatte, wurde ihr inzwischen schwindelig. Er würde sie als dritte Grazie malen – nackt.
Und dann?
Taten sich die Himmel auf, um sie zu bestrafen? Die Pforten der Hölle, um sie zu verschlingen?
Susanna bückte sich, schöpfte Wasser in ihre Hand und kühlte ihre erhitzte Haut.
Hilf mir, heilige Jungfrau Maria!, betete sie inbrünstig. Du weißt, wie gern ich deinem Sohn bis zum Ende aller Tage im Kloster gedient hätte, doch
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