Die geheime Braut
kommt. Gefällt dir die Zeichnung, Susanna?«
Das Frauengesicht, das ihr entgegensah, war herzförmig, wirkte wach und gleichzeitig seltsam abwesend. Große Augen unter geschwungenen Brauen, die Nase kurz, die Lippen leicht geöffnet, als würde sie etwas erstaunen.
»Das soll ich sein?«, fragte sie ungläubig.
In Sonnefeld hatte es keinen Spiegel gegeben. Die Bräute des Herrn sollten innerlich tugendhaft und rein sein, allein darauf kam es an, nicht auf die äußere Schale. Seit sie das Kloster verlassen hatten und unterwegs waren, teilten Bini und Susanna sich eine halbblinde Scherbe, in der man mehr ahnen als erkennen konnte, weshalb sie diese auch so gut wie nie benutzten.
Jetzt begann Jan laut zu lachen.
»Weißt du, dass sie das alle sagen? Vielleicht weil jeder von uns ein ganz eigenes Bild von sich in sich trägt und sich fremd vorkommt, sobald andere Augen ihn widerspiegeln. Aber diese Augen sehen manchmal mehr – und ganz anderes. Etwas, das uns selbst vielleicht gar nicht bewusst ist.«
Widersprüchlichste Empfindungen stritten in Susanna. Wie konnte sie sich ihm so nah fühlen – und doch wissen, wie enttäuscht sie schon im nächsten Augenblick sein würde?
Sie schrak zusammen, als sie Katharinas Stimme hörte, die mit der kleinen Elisabeth auf dem Arm in den Garten gekommen war.
»Jetzt ist sie endlich wach geworden«, sagte sie zu Jan. »Und ganz munter scheint sie heute auch zu sein. Ich danke dem Schöpfer, dass er sie uns nicht genommen hat. Und wie sehr würde ich mich über eine neue Zeichnung von den Kindern freuen.« Sie beugte sich über das Blatt, zog die rötlichen Brauen hoch. »Aber du hast ja, wie ich sehe, ein ganz neues Motiv gefunden!« Ihre Stimme klang plötzlich belegt.
Er verjagte ihre aufkeimende Verstimmung mit seinem frechsten Grinsen, während Susanna am liebsten im Boden versunken wäre.
»Du weißt doch, werte Lutherin, dass nichts und niemand vor meiner schnellen Kreide sicher ist«, sagte er spielerisch. »In der Werkstatt muss ich mich den Anordnungen des Meisters fügen, obwohl er mich inzwischen zu seinem Stellvertreter ernannt hat. Bin ich jedoch allein unterwegs, so tun meine Finger, was sie wollen. Das war schon immer so.«
Galt das wirklich Katharina, oder waren Jans Worte nicht eher an sie gerichtet?, fragte sich Susanna.
Bevor er sie noch weiter in Verlegenheit bringen konnte, raffte sie ihr Flickbündel zusammen und stand auf.
»Ich werde Bini bitten, später weiterzustopfen, wenn es Euch recht ist«, sagte sie. »Denn die hat dazu entschieden mehr Talent. Ihr wollt die Sachen ja schließlich wieder anziehen – und nicht nur als Lappen verwenden.«
»Meinetwegen«, erwiderte Katharina, aber war ihr Blick nicht deutlich kühler geworden? »Wo steckt Binea überhaupt? Hab sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«
Susanna zog die Schultern hoch, obwohl sie keineswegs so ahnungslos war, wie sie tat. »Rabe« hatte sie die Freundin mehrmals im Schlaf murmeln hören. Sie danach zu fragen, hatte sie bisher unterlassen, aber Bini war auch tagsüber hippelig und geistesabwesend. Es war neu, dass es solche Geheimnisse zwischen ihnen gab, die eine Sperre errichteten.
Aber hatte nicht sie selbst damit angefangen?
»Dann machst du inzwischen in den Ställen weiter«, ordnete Katharina an. »Versorg die Tiere, bring den Dung zum Misthaufen, und vor dem Abendessen kommen wir dann alle zusammen, um gemeinsam zu beten.«
Beim Weggehen spürte Susanna Jans Blick zwischen ihren Schulterblättern. Auf gewisse Weise wärmte er sie, das fühlte sich angenehm an. Gleichzeitig jedoch ließ er sie noch unruhiger werden, als sie ohnehin schon war.
*
Philipp Melanchthon war schnellen Schritts auf der Collegiengasse unterwegs, da hörte er jemanden seinen Namen rufen. Als er stehen blieb und sich umdrehte, schloss Titus Pistor zu ihm auf.
»Auch gerade auf dem Weg zum Markt?«, fragte er. »Da kön nen wir ja zusammen gehen.«
Melanchthon verzog das Gesicht.
Was da vor ihm lag, war schon unangenehm genug. Und jetzt auch ausgerechnet noch Pistor, von dem er fachlich einiges hielt, der ihm aber als Person so gar nicht lag! Allerdings erfreute sich der Neuzugang an der Universität eines überraschend großen Zulaufs, obwohl er bei den Studenten als launisch und ungemein streng verschrien war. Seine Vorlesungen galten jedoch als kurzweilig und waren mit klugen Zitaten gespickt, und um seine gedruckte Grammatik des Griechischen, die klar gegliedert und äußerst
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