Die geheime Braut
Angesicht schauen und Deine himmlische Herrlichkeit erlangen!«
Eine kurze Pause. Die Köpfe senkten sich andächtig.
Danach ertönten wie aus einem Mund die tröstlichen Worte des Vaterunsers.
*
Jan hatte erst ein paar Striche zu Papier gebracht, als die Kurprinzessin von ihrem Sessel aufsprang und unruhig auf und ab zu gehen begann. Der Raum war hell ausgemalt und mit einem Tisch, einigen Sesseln und zwei Truhen eher sparsam möbliert. Die Längswand schmückte ein kostbarer Teppich mit eingewebten Goldfäden, der ein Ritterturnier zeigte, und die beiden Ständer, in denen dicke Kerzen steckten, waren aus schwerem Silber.
»Ist es wahr, was alle erzählen?«, fragte Sibylle von Kleve. »Dass man eine Frauenleiche aus der Elbe gefischt hat – mit einem Strick um den Hals?«
Dilgin von Thann ließ ihren Stickrahmen sinken, an dem sie lustlos gestichelt hatte, und spitzte die Ohren.
Jan nickte unbehaglich.
»Wollt Ihr Euch nicht lieber wieder setzen, Hoheit?«, bat er. »Dann könnte ich mit dem Zeichnen fortfahren.«
Die Kurprinzessin schien ihn gar nicht zu hören.
»Sie muss noch sehr jung gewesen sein«, sagte sie. »Kaum älter als ich. Das habe ich aus der Küche. Dort kennen sie heute kein anderes Thema. Sogar die Suppe war gründlich versalzen, so aufgeregt sind sie alle.«
»Ja, Margaretha Relin musste früh sterben«, sagte Jan. »Viel zu früh.«
»Ihr habt sie gekannt?« Dilgin von Thanns unergründlicher Blick war fragend auf ihn gerichtet.
»Alle haben sie gekannt«, erwiderte er ausweichend. »Sie war die Frau des Apothekers. Halb Wittenberg kauft dort ein, zumindest die, die es sich leisten können. Das Haus gehört Lucas Cranach.«
Dilgin legte den Kopf ein wenig schief.
»Dieser Cranach muss, wie man hört, ein äußerst wohlhabender Mann sein«, sagte sie. »Ist es wahr, dass er mehrere Häuser besitzt?«
Worauf wollte sie hinaus?
Ihre Gegenwart irritierte Jan, weil er ständig an das denken musste, was der Meister von ihm erwartete. Er hatte versucht, ihm klarzumachen, dass er sich diese Idee aus dem Kopf schlagen müsse. Niemals könne die Hofdame der Kurprinzessin als nackte Thalia dargestellt werden.
Aber Cranach war unnachgiebig geblieben.
»Meister Cranach führt eine große Werkstatt.« Jan wog jedes Wort sorgfältig ab. »Er beschäftigt eine Reihe von Gesellen und Lehrlingen und gilt als überaus fleißig. Habe ich Eure Frage damit beantwortet?«
»Nicht ganz.« Dilgins spitze Zunge fuhr blitzschnell über die schmalen Lippen. »Diese Werkstatt liegt doch unmittelbar neben der Apotheke?«
»Das ist richtig.«
»Dann müsst Ihr die tote junge Frau gut gekannt haben«, fuhr sie fort. »Hat sie ein glückliches Leben geführt?«
Was für eine Frage!
Jan hatte plötzlich Margarethas flehentlich entschlossenen Gesichtsausdruck vor Augen, als sie ihn festgehalten hatte, damit ihr sehnlichster Wunsch sich endlich erfüllte.
Es tat ihm leid, dass alles so gekommen war. Entsetzlich leid sogar.
Stünde es in seiner Macht, er würde es auf der Stelle rückgängig machen – doch das war unmöglich.
»Wer kann schon in das Herz einer Frau schauen?«, zitierte er den Alten, um nichts Verfängliches preiszugeben. »Darf ich Euch noch einmal untertänigst zurück zum Sessel bitten, Hoheit?«
Zu seiner Überraschung gehorchte die Kurprinzessin.
Jan kannte das Brautporträt, das Cranach von ihr gemalt hatte: das helle herzförmige Gesicht, konzentriert, als lausche sie nach innen; die hohe Stirn; die dunklen, weit auseinanderstehenden Augen; die geschlossenen Lippen; das mittig gescheitelte, lang herabwallende Haar, das ein zarter Blumenkranz schmückte.
Abwartend und unschuldig wirkte sie auf dem Gemälde, ein Mädchen, gerade an der Schwelle zum Frausein.
Er ließ seinen Blick über sie gleiten.
Ja, Ehe und Schwangerschaft hatten Sibylle von Sachsen, wie sie inzwischen hieß, in der Tat verändert. Aus der Knospe war eine junge Rose geworden, die Züge weicher, die Lippen voller. Sogar die Augen blickten nicht länger ängstlich drein, sondern schienen frivole Geheimnisse zu kennen, die sie nicht verraten wollten. Es war eine Freude, diese junge Frau in ihrer Blüte zu zeichnen – und entsprechend beschwingt flog Jans Rötelkreide über das Papier, trotz all der trüben Gedanken, die sich nicht abstellen ließen.
»Mein Gemahl hat mir ein neues Gewand schneidern lassen«, sagte die Kurprinzessin nach einer Weile. »Aus grünem Samt, besetzt mit breiten kupferfarbenen
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