Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
wachsam; sie sah aus wie ein kleiner Junge.
»Selber hallo. Willst du auch frühstücken?«
Sie setzte sich zu mir an den Tisch. »Wie ist es gegangen?« fragte sie.
Ich erzählte ihr alles. Sie hörte aufmerksam zu, und dabei nahm sie sich ein dreieckiges Stück Buttertoast von meinem Teller und aß es.
»Ist er okay?« fragte sie schließlich.
Ich wußte nicht genau, was sie damit meinte – »okay«. »’türlich«, sagte ich.
Es war lange still. Sehr leise hörte man im unteren Stockwerk eine muntere Frauenstimme ein Lied über Joghurt singen, begleitet von einem Chor muhender Kühe.
Sie aß ihren Toast auf und erhob sich, um sich Kaffee zu holen. Der Kühlschrank brummte. Ich sah ihr zu, wie sie im Schrank nach einer Tasse suchte.
»Weißt du«, sagte ich, »ihr solltet mal das Glas Malzmilchpulver wegschmeißen, das ihr da habt.«
Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Ich weiß«, sagte sie. »Im Wandschrank ist ein Schal, den er hiergelassen hat, als er das letztemal da war. Er fällt mir immer wieder in die Hände. Er riecht noch nach ihm.«
»Wieso wirfst du ihn nicht weg?«
»Ich hoffe immer, daß ich es nicht muß. Ich hoffe, eines Tages mache ich den Schrank auf, und dann ist er weg.«
»Ich dachte doch, daß ich dich höre«, sagte Charles, der – ich weiß nicht, wie lange schon – in der Küchentür stand. Sein Haar war naß, und er hatte nur einen Bademantel an; in seiner Stimme war immer noch ein Rest von dieser Alkoholschwere, die ich so gut kannte. »Ich dachte, du bist im College.«
»Wir waren nicht allzu viele heute. Julian hat uns früher gehen lassen. Wie fühlst du dich?«
»Fabelhaft.« Charles kam in die Küche getappt; auf dem glänzenden, tomatenroten Linoleum hinterließen seine feuchten Füße Abdrücke, die sofort verdunsteten. Er trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern; dann beugte er sich herunter, und seine Lippen näherten sich ihrem Nacken. »Wie wär’s mit einem Kuß für deinen Knastbruder?«
Sie wandte sich halb um, als wolle sie mit den Lippen seine Wange berühren, aber er schob eine Hand an ihrem Rücken herunter, hob mit der anderen ihr Gesicht zu sich und küßte sie mitten auf den Mund – nicht mit einem brüderlichen Kuß, so sah es nicht aus, sondern mit einem langen, langsamen, gierigen Kuß, naß und wollüstig. Sein Bademantel öffnete sich leicht, während seine linke Hand von ihrem Kinn zum Hals herunterglitt, zum Schlüsselbein, zur Kehle, und seine Fingerspitzen schoben sich unter den Rand ihrer dünnen gepunkteten Bluse und verharrten dort bebend über der warmen Haut.
Ich war verblüfft. Sie zuckte nicht zurück, rührte sich nicht. Als er sich aufrichtete, um Luft zu holen, rückte sie ihren Stuhl dicht an den Tisch und griff nach dem Zuckertopf, als sei nichts geschehen. Der Geruch von Charles – süß vom Lindenwasser, das er zum Rasieren benutzte – hing schwer in der Luft. Sie hob die Tasse und trank einen Schluck, und erst da fiel es mir ein: Camilla mochte keinen Zucker im Kaffee. Sie trank ihn ungesüßt, mit Milch.
Ich war fassungslos. Ich hatte das Gefühl, ich müßte etwas sagen - irgend etwas –, aber mir fiel nichts ein.
Es war Charles, der das Schweigen schließlich brach. »Ich verhungere bald«, sagte er, knotete sich den Bademantel wieder zu und schlurfte hinüber zum Kühlschrank. Die weiße Tür öffnete sich klirrend. Er bückte sich, um hineinzuschauen, und Gletscherlicht überstrahlte sein Gesicht.
»Ich glaube, ich mache ein paar Rühreier«, sagte er. »Will noch jemand welche?«
Spät am Nachmittag, als ich nach Hause gegangen war, geduscht und ein bißchen geschlafen hatte, ging ich zu Francis.
»Komm rein, komm rein«, sagte er hektisch winkend. Seine Griechischbücher waren auf dem Schreibtisch ausgebreitet; eine brennende Zigarette lag im vollen Aschenbecher. »Was ist letzte Nacht passiert? Charles ist verhaftet worden? Henry wollte mir nichts erzählen. Einen Teil der Geschichte kenne ich von Camilla, aber sie wußte keine Einzelheiten ... Setz dich. Willst du was trinken? Was kann ich dir anbieten?«
Es machte immer Spaß, Francis eine Geschichte zu erzählen. Er beugte sich dann vor und verschlang jedes Wort, und in angemessenen Abständen reagierte er mit Staunen, Sympathie oder Bestürzung. Wenn ich fertig war, bombardierte er mich mit Fragen. Normalerweise hätte ich seine hingerissene Aufmerksamkeit genossen und meine Geschichte viel mehr in die Länge
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