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Die geheime Mission des Nostradamus

Titel: Die geheime Mission des Nostradamus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle Riley
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verschnürtes Päckchen vor die Brust. Lieber Gott, dachte Nostradamus, ein ganzer Haufen Gedichte, und von mir wird vermutlich erwartet, daß ich jedes einzelne lese. Doch sie stand stocksteif da und sagte dieses eine Mal gar nichts. Und auf einmal verstand der Prophet, daß sie Anael sah. Er war für sie nicht unsichtbar.
    »Ich wußte nicht, daß Ihr Besuch habt«, sagte sie und musterte die unbekleidete Gestalt mit den rabenschwarzen Flügeln. »Entschuldigung, Monsieur… ach ja… Anael, nicht wahr. Ich komme wieder, wenn Ihr Eure Toilette beendet habt.«
    »O nein, so bleibt doch, bitte«, sprach Anael, und an Nostradamus gerichtet: »Siehst du? Das ist jemand, der sich mit der höflichen Anrede auskennt.«
    »Und woher kennt Ihr Anael?« fragte Nostradamus. »Und wie kommt es, daß Ihr ihn sehen könnt?«
    »Ach… ich sehe häufig… etwas«, sagte sie, machte jedoch noch immer große Augen vor Schreck. »Und wie Ihr wißt, lese ich.« Sie zögerte. »Monsieur Anael, dunkelblau, sehr gut aussehend – der Engel der Venus…« Hier errötete sie. »Das mit Euren kleinen funkelnden Sprenkeln habe ich nicht gewußt. Wie der nächtliche Himmel.« Während sie dastand und staunte, kam der Prophet wieder zu sich, bedeckte den Entwurf zu dem Horoskop mit einem leeren Blatt Papier und beschwerte es mit einem Buch und dem Tintenfaß.
    »Habt Ihr etwa diesen Jagdhund mitgebracht?«
    »Ich weiß, daß Ihr Gargantua nicht mögt, also habe ich ihn daheim gelassen.«
    »Und die Tante?«
    »Tantchen läßt gerade in einer netten kleinen Wohnung, die wir gemietet haben, die Möbel umstellen. Sie liegt gar nicht so weit von hier. Ich habe Euch auch etwas mit…«
    »Legt es getrost dorthin«, fiel ihr der Prophet ins Wort und gab sich geschlagen. »Ich lese es später. Ihr seid doch nicht etwa so weit gegangen, mir ein Gedicht zu widmen, oder? Das kann ich nun wirklich nicht zulassen…«
    »Es… es sind nur Hausschuhe. Wir haben sie nach Euren alten anfertigen lassen. Genau die gleichen…« Auf einmal kam sich Nostradamus sehr gemein und kleinlich vor, denn er merkte, daß ihr die Tränen in die Augen geschossen waren. »Mein Vater hat sie auch nie gemocht, aber ich glaube, die Königin hat sie sehr bewundert, und M. Montmorency auch, vor allem das Gedicht über Euch… Verzeihung…« Sie wischte sich eine Träne ab und schüttelte den Kopf, damit nicht noch mehr kamen.
    »Bitte, setzt Euch doch, Demoiselle Sibille.« Anael nahm gerade mit seiner riesigen Gestalt auf dem Himmelbett Platz, das in einer Ecke des Raums stand, und klopfte auf die Fläche neben sich. »Nicht jeder besitzt die Gabe. In Euren Prosadialogen gibt es viele Passagen, die sehr geistreich und witzig sind.«
    »Findet Ihr wirklich?« fragte sie, zögerte aber noch, sich zu setzen.
    »Aber ja«, sagte Anael. »Und Ihr solltet Euch der Geschichte annehmen. Auf diesem Gebiet besitze auch ich eine Begabung. Dabei könnte ich Euch helfen. Michel, du bist ein unhöflicher Flegel. Du hast der Dame noch nicht einmal einen Platz angeboten.«
    »Oh, tut mir leid. Ich muß mit meinen Gedanken woanders gewesen sein. Habt keine Angst, Euch neben Anael zu setzen. Vermutlich ist er nicht nach der neuesten Mode gekleidet, aber er ist wohlerzogen.« Als sich Sibille unschlüssig neben die riesengroße nackte Gestalt setzte, merkte Nostradamus, daß sie sorgsam ihren Saum ordnete, um ihre großzügig bemessenen Füße zu verbergen, und da taten ihm die Worte, die ihm herausgerutscht waren, noch mehr leid.
    »Ich dachte, vielleicht ist die Zeit gekommen, daß meine Kunst Anerkennung findet. Ich meine, die Lesungen sind so gut gelaufen, und selbst… Ihr glaubt doch nicht, daß dieser gräßliche Menander dahintersteckt?«
    »Habt Ihr Euch etwas gewünscht?« fragte der alte Doktor entsetzt.
    »Nein, aber fast jeder würde es tun, wenn er nur an ihn herankäme. Die Königin behält mich in ihrer Nähe, und Ihr würdet es nicht glauben, wer mir alles schmeichelt, nur um einen Blick auf ihn werfen zu können. Ich hoffe… daß nur ein wenig davon aufrichtig ist. Aber wahrscheinlich hat er recht. Es ist alles nur Schmeichelei.«
    »Was meint Ihr mit ›er hat recht‹? Und wo ist er überhaupt? Ich denke, er folgt Euch auf Schritt und Tritt. Mittlerweile sollte er sich materialisieren.«
    »Menander hat mir gesagt, daß er mich abgeschrieben hat, so lange, bis ich merke, daß es nur einen Ausweg für mich gibt, wenn ich nicht eine einsame alte Jungfer werden will, nämlich

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