Die geheime Mission des Nostradamus
verabscheuenswürdigen Señor Alonzo…«
»Señor Alonzo?« sagte sie. »Wenn Ihr mich nach Haus begleitet, stelle ich ihn Euch vor…«
Ein Wort – sie würde es später in einem Dutzend hehrer Zeilen zur Geltung bringen – drängte sich in ihrem Kopf nach vorne und ließ Schmerz und Kummer, Verwirrung und Schrecken verblassen. Das hagere Gesicht des jungen Mannes erschien ihr auf einmal edler als das Apollons.
Das Wort lautete »Schönheit«.
Es war fast Mitternacht, und Nostradamus' Kerze war beinahe niedergebrannt. Léon schnarchte auf seinem Notbett, das man am Fuß des großen Himmelbetts an der Wand aufgebaut hatte. Keine Diener wieselten mehr durch die Türen des Zimmers aus und ein, das in dem sonderbaren Palast auch als Durchgang diente, und selbst die Mäuse hatten sich endlich schlafen gelegt. Doch der alte Prophet mühte sich noch immer verbissen mit einem Horoskop, in dem viel durchgestrichen war und das mehrere Tintenkleckse aufwies – Zeichen blanker Enttäuschung.
»Es geht noch immer nicht auf, Anael«, jammerte er und schlug in einem kleinen Buch mit astronomischen Berechnungen nach. »Das treibt mich noch zum Wahnsinn. Da sieh mal, hier sind Stunde und Geburtsdatum, die sie mir gegeben hat, sechs Uhr früh am elften Februar, und hier habe ich den Charakter und die Zukunft, und gar nichts paßt auf dieses Mädchen und auf das, was ich in ihrer Aura lese.«
»Hmm«, meinte Anael und verschränkte die Arme auf der nackten Brust. »Ich verstehe, was du meinst.«
»Du verstehst gar nichts. Du siehst ja nicht einmal hin«, sagte Nostradamus.
»Du weißt doch, ich sehe auch ohne hinzusehen«, sagte Anael, und das hörte sich ziemlich hochnäsig an. Der alte Prophet knurrte und machte sich wieder an die Arbeit.
»Schau dir das hier an, da, schau. Demzufolge ist sie ein zerbrechliches, empfindsames, poetisches Wesen, das schon vor zwei Jahren, noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag, im Kindbett hätte sterben sollen. Und dabei ist sie ein großes gesundes Pferd und nicht einmal verheiratet.«
»Sie hält sich aber für empfindsam und poetisch.«
»Ihre Gedichte sind gräßlich, und was die Empfindsamkeit angeht… also, für meine Begriffe ist sie der reinste Dickhäuter. Und während sie faselt und faselt, daß sie eine zerbrechliche Lilie sei, lauert hinter ihren Worten ein scharfer Witz, mit dem sie Komödienschreiberin werden könnte. Alles nur vorgetäuscht, Anael.«
»Vielleicht hat sie dich mit ihrem Geburtstag angelogen. Sie ist ein wenig empfindlich, was ihr Alter angeht«, meinte Anael mit gespielter Hilfsbereitschaft.
»Nein – ihre Aura zeigt mir, daß sie nicht gelogen hat, wenigstens dieses Mal nicht. Sie hat gesagt, sie habe es sich von ihrer Patin bestätigen lassen, um ganz sicherzugehen.« Der alte Prophet fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bis es an einer Seite zu Berge stand. Anael lachte stillvergnügt. Nostradamus krempelte die Ärmel hoch, damit sie nicht tintenfleckig wurden, und beugte sich erneut über das Horoskop. »Es kommt mir fast so vor, als versuche sie, die Person zu sein, die das Horoskop beschreibt«, brummelte er in seinen Bart. »Es ergibt einfach keinen Sinn.«
»Vielleicht solltest du es überschlafen«, empfahl der Engel der Geschichte.
»Du weißt doch, daß ich in diesem furchtbaren Bett nicht schlafen kann. Das Kissen – es ist mit ausnehmend billigen Federn gestopft, nicht mit guten Gänsedaunen wie mein eigenes. Das bewirkt schlechte Träume. Des Nachts sehe ich Aufstände, Tod und einen Bruderkrieg. Schlimmer könnte ich gar nicht träumen. Wenn ich nicht auf das Honorar der Königin warten müßte, wäre ich gestern schon aufgebrochen. Nein, vorgestern. Die Wachteln vom gestrigen Abendessen haben mir nicht gefallen. Zähe, knochige Dingerchen, und die Sauce hatte einen Stich. Seitdem habe ich Magendrücken. Diese Köche aus dem Norden wissen einfach nicht, wie wertvoll Knoblauch ist.«
»Nur weil sie ihn nicht roh kauen wie die Leute aus dem Béarnais…« Doch der große Nostradamus war über seinen Papieren eingenickt. Anael beugte sich über den Schlummernden und blies die zischende Kerze aus.
»Ihr seht also«, sagte Tantchen, »wir besitzen zwar einige Stücke aus seinem Schatz, doch der echte Señor Alonzo, ein alter Feind meines Mannes, liegt auf dem Grund des Meeres, und Monsieur Tournet hat meinen kleinen Liebling hier nach ihm genannt; der war viele Jahre lang der einzige Trost einer armen, alten Witwe, und das um so mehr,
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