Die geheime Mission des Nostradamus
zugezogen, doch das machte keinen Unterschied. Die Fenster waren von wildem Wein zugerankt, und es drang fast kein Tageslicht herein.
»Komische Gefühle? Ach, warum solltest du dich vor ihnen erschrecken? Mein Schatz, ich glaube, du bist die geborene Kartenlegerin. Schließlich macht dir der seltsame, gefederte Kerl im hinteren Schlafzimmer auch nichts aus. Warum also solltest du dich vor gemalten Bildern auf Pappe fürchten?«
Wir verbrachten den größten Teil des Tages in angenehmer Unterhaltung beim Studium der Karten. Und für eine gewisse Zeit blieb der schmollende Kopf schweigsam in seinem Kasten und materialisierte sich nicht.
»Und jetzt leg sie noch einmal aus, Sibille, die zweite Reihe quer zur ersten. Siehst du, dieses Mal haben wir die Päpstin. Das ist mein ganz besonderer Liebling.«
»Was macht ihr da? Schon wieder eine neue Mode?« Menanders Kasten nahm allmählich schimmernd auf der geschnitzten Anrichte aus Zedernholz Gestalt an. Seine Stimme klang so verlogen, als erwarte er etwas, was wieder seinen miesen Charakter erfreuen konnte. »Zu meiner Zeit hat eine gute Widderleber zum Wahrsagen genügt. Macht meinen Kasten auf.« Doch uns blieb keine Zeit zum Antworten. Ohne darauf zu warten, daß man ihn anmeldete, hatte jemand die Haustür so heftig aufgerissen, daß sie gegen die Wand donnerte. Tantchen sah nicht einmal von ihren Karten auf. Man hörte ein Gerangel, als der Besucher Tantchens Lakai beiseite schob.
»Heb ab, Sibille«, sagte sie, ohne auch nur aufzusehen. Eine Stimme dröhnte durch das von Geistern bewohnte Haus.
»Da bist du also, du habsüchtiges altes Weib! Und was treibst du hier, Sibille, aufgeputzt mit kostbarer Seide wie die Mätresse eines reichen Mannes? Ich reiße dir den Tand vom Leib. Habe ich es doch gewußt, daß ich dich hier finden würde. Habe ich dir nicht gesagt, daß du nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen darfst? Zieh sofort deine alten Sachen an. Ich bringe dich auf der Stelle nach Haus!«
Vater.
Das war nicht gerade das Wiedersehen, das ich mir ausgemalt hatte, in meiner Phantasie war es viel bewegender ausgefallen und hatte Dankbarkeit und Rührung beinhaltet. Vielleicht, so hatte ich gedacht, würde er weinen, wenn er mein Gesicht erblickte, nachdem er der Schwelle des Todes so nahe gekommen war, und mich dann umarmen und mich für meine Tapferkeit wegen der Bittschrift beim Bischof loben und sagen, daß er mich noch nie richtig zu schätzen gewußt habe, daß er jetzt aber, angesichts seines nahenden Todes, blitzartig zu Einsicht gelangt sei. So hatte ich es mir mehr oder weniger vorgestellt, doch vermutlich spielte mir das Schicksal, das mir meine Rede verdorben und mich gedemütigt hatte, auch diesen unerquicklichen Streich, um meinen bereits angeschlagenen Stolz endgültig zu vernichten.
»Ja, ja, Hercule. Undankbar wie eh und je. Du hast mich noch nicht einmal begrüßt.« Sie hatte noch immer nicht von den Karten aufgeblickt.
»Pauline, du weißt, was du bist. Ich habe Sibille verboten, dieses Haus jemals wieder zu betreten. Und jetzt treffe ich sie hier beim Kartenspielen an, in einem Kleid, das ihr nicht gehört, und an wer weiß welchen Ausschweifungen beteiligt.« Vater befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Er benötigte dringend ein Bad, und sein Haar war ganz zerzaust.
»Ei, Hercule, ich erinnere mich noch gut, wie du im Haus unseres Vaters vor mir gekniet und mich angefleht hast, der Familie zuliebe Kapitän Tournet zu heiraten. Du hast mir versprochen, mich nie im Stich zu lassen. Ehre! Ha! Du kennst dieses Wort nicht einmal.«
»Du erwartest doch wohl nicht… Wer würde meine Töchter überhaupt noch heiraten wollen, wenn er wüßte, daß wir mit dir verwandt sind. Mein guter Ruf…« Vater schnaufte, hielt inne in seiner Jagd auf dem türkischen Teppich und packte mich beim Ohr.
»Oder die Töchter eines hingerichteten Ketzers? Sibille, das pflichtbewußteste deiner Kinder, hat sich allein auf den Weg gewagt, um dem Bischof eine selbstverfaßte Bittschrift zu überreichen, in der sie in außerordentlich stichhaltigen Argumenten deine Unschuld beteuert hat.«
»Dummes Zeug. Lüg nicht das Blaue vom Himmel herunter. Ich habe nie gestanden. Meinen eisernen Willen hat nicht einmal der Anblick der Folterinstrumente brechen können. Man war so beeindruckt von meiner Loyalität, daß mich der Bischof höchstpersönlich verhörte. Dann haben sie mir erlaubt zu widerrufen. Widerrufen! Ich! Wißt Ihr, was es bedeutet, wenn
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