Die geheime Reise
Paket in seiner Hand zur Seite und griff nach dem Messer, das Flora ihm hinschob. Er schien dankbar zu sein etwas tun zu können und Wanja beobachtete erstaunt, wie schnell und sorgfältig er die Zwiebeln in feine Ringe schnitt.
»Was ist denn da drin?«, fragte Wanja und deutete auf das Paket. Es war rechteckig, mit Packpapier verpackt und mit einer roten Kordel umwickelt.
Mischa wurde rot. »Hab ich dir mitgebracht«, murmelte er.
»Danke.« Wanja hielt das Paket schon in der Hand. Zerknirscht sah sie auf. »Ich hab jetzt aber gar nichts für dich.«
Mischa gab keine Antwort, und als Wanja das Papier weglegte, musste sie schlucken. Es war das Bild, das Mischa von ihr gemalt hatte. Es lag zwischen zwei dicken Pappen, und bevor Wanja irgendetwas erwidern konnte, stand Jo hinter ihr.
»Wer hat das gemalt?« Ihre Stimme schien zu zittern.
»Mischa«, sagte Wanja und dachte an Jos Porträt vom Dachboden. Und daran, dass ihre Mutter jetzt bestimmt das Gleiche dachte.
»Donnerwetter.« Jetzt hatte sich auch Flora über das Bild gebeugt. »Das warst du?« Sie pfiff durch die Zähne. »Das ist unglaublich. Woher kannst du so gut malen?«
Mischa zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, murmelte er.
Wanja strahlte ihn an. »Siehst du? Ich hab dir gesagt, Flora würde begeistert sein. Und sie versteht was davon.«
Flora sah Mischa aus ihren klaren Augen an. »In welche Klasse gehst du?«
»Neunte.« Mischa beugte sich wieder über seine Zwiebeln.
»Und hast du schon eine Ahnung, was du mal machen willst?«
»Musik.«
Flora lachte. »Na, wenn du so Musik spielst, wie du malst, dann bin ich schon jetzt ein Fan von dir.«
Mischa sagte nichts. Aber Wanja merkte, dass er sich wohl fühlte.
Als die vier nach einer Weile um den gedeckten Tisch herumsaßen und ihre Fleischspieße in Floras Soßen tunkten, war Wanja einen Moment lang fast glücklich. Paula lag auf ihrem Schoß und maunzte leise im Schlaf. Jo trug Rot. Flora erzählte von der Schule, verkündete stolz, dass sie beschlossen hatte im neuen Jahr den Mann ihres Lebens zu finden, und stieß der stöhnenden Jo lachend in die Seite.
Nach dem Essen brachten sie Mischa »Siedler von Catan« bei und um Mitternacht stellte Jo eine Flasche Champagner mit vier Gläsern auf den Tisch.
»Auf ein gutes neues Jahr«, sagte sie.
»Auf die Liebe«, sagte Flora.
In der Ferne knallte es. Paula sprang von Wanjas Schoß und jagte aus der Küche. Wanja und Mischa sagten nichts. Aber als ihre Gläser mit leisem Klingen aneinander stießen, wusste Wanja, dass sie im Stillen denselben Wunsch aussprachen.
In dem Moment klingelte das Telefon.
»Frohes neues Jahr«, rief Wanja in den Hörer hinein.
»Danke«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Gleichfalls.«
Es war nicht ihre Großmutter, wie Wanja im ersten Moment vermutet hatte. Es war eine Männerstimme. Wanja runzelte die Stirn. »Wer spricht denn da?«
Eine Pause entstand. »Das wollte ich auch gerade fragen.«
»Wer ist denn dran?« Jo stand im Flur, und als Wanja mit den Achseln zuckte, nahm sie ihr den Hörer aus der Hand.
»Hallo?« Jo hatte Wanja den Rücken zugedreht. »Nein«, hörte Wanja sie sagen. »Da haben Sie sich verwählt. Auf Wiederhören.«
Als Jo sich wieder umdrehte, zog sie die Mundwinkel auseinander. Es sollte wohl ein Lächeln sein. Aber es war eine Grimasse. Wanja legte die Finger auf ihren Kehlkopf. Und drückte. Als ob es helfen würde.
»Da hat sich jemand verwählt«, wiederholte Jo. »Falsch verbunden.« Dann zuckten ihre Mundwinkel. Sie legte die Hand auf ihre Stirn. »Meine Güte, der Champagner ist mir ganz schön in den Kopf gestiegen. Ich brauche ein Aspirin.«
Sie ging nach oben. Auf der dritten Treppenstufe stolperte sie, fing sich aber.
Als sie nach einer Viertelstunde zurück in die Küche kam, warf ihr Flora einen langen Blick zu, aber Jo presste die Lippen aufeinander und ihr Gesicht sah aus, als hätte sich eine hauchdünne Maske aus hart gewordenem Wachs darüber gelegt. »Was ist? Hat noch jemand Lust zum Bleigießen?«
Wanja versuchte den Kloß in ihrer Kehle wegzuräuspern. Vergeblich. Als sie aufstand, kippte ihr Stuhl nach hinten. »Nein danke. Ich geh schlafen. Kommst du mit nach oben, Mischa?«
Als Wanjas Großmutter da war, hatte Wanja bei Jo im Bett geschlafen. Für Mischa hatte sie eine Matratze vom Dachboden geholt und sie neben ihr Bett gelegt. Mischa kroch mit Jeans und T-Shirt in den Schlafsack.
Wanja wusste nicht, wie lange sie in der Dunkelheit nebeneinander lagen und schwiegen.
»Er
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