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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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ist weg«, sagte Mischa irgendwann in die Stille hinein.
»Wer?« Wanja drehte sich auf die Seite. »Wer ist weg?«
»Das Arschloch.«
»Du meinst deinen Vater?«
»Ich meine das Arschloch.« Kalt klangen seine Worte und scharf wie Rasiermesser. »Heiligabend ist er abgehauen. Seine Siebensachen hat er mitgenommen. Und wenn er noch einen Fuß vor unsere Tür setzt, bring ich ihn um.«
Wieder Schweigen.
Sieben Mal klackten die Ziffern auf Wanjas Radiowecker.
»Wanja?«
»Ja?«
»Am Telefon. Das war dein Vater, oder?«
»Ja.«
Mischa räusperte sich. »Und wie klang seine Stimme?«
Wanja legte sich wieder auf den Rücken. In der Ferne rief ein Käuzchen.
»Fremd«, sagte sie leise.
    Als Mischas Atemzüge ruhig und regelmäßig geworden waren, stand Wanja auf. Barfuß schlich sie nach unten. Auf der drittletzten Treppenstufe setzte sie sich hin. Wieder drangen Stimmen unter dem breiten Türspalt hervor. Aber diesmal hörte Wanja ihre Mutter schluchzen. »Und dann auch noch das Bild. Im ersten Moment dachte ich, der Junge … ach, Scheiße, ich weiß nicht, was ich dachte. Es ist wie ein Fluch. Alles erinnert mich an ihn. Vor allem Wanja. Je älter sie wird, desto mehr sehe ich ihn in ihr. Mein Gott, Flora!« Das Schluchzen wurde lauter. »Wieso hat er mir das angetan?«
    »Jo.« Floras Stimme klang eindringlich und ein bisschen so, als spräche sie zu einem Kind. »Es ist dreizehn Jahre her! Und du kannst ihn nicht auf ewig totschweigen. Wanja ist kein kleines Mädchen mehr. Sie hat ein Recht auf die Wahrheit. Und sie hat ein Recht auf ihren Vater – ganz egal, was damals passiert ist.«
    Wanjas Herz fühlte sich an, als wollte es aus ihrer Brust springen und auf die Treppe fallen.
»Ich muss jetzt ins Bett.« Jos Stimme war hart geworden. Ein Stuhl wurde nach hinten geschoben. Ein Glas fiel um, aber es klirrte nicht. Und dann ertönte ein lautes Brummen. Es kam von oben. Wanja sprang auf. Raste zurück in ihr Zimmer.
Am Fenster stand Mischa. Draußen wurde es schon hell, die aufgehende Sonne schickte ihre roten Vorboten über den Morgenhimmel. Mischa zeigte nach oben und Wanja stellte sich neben ihn. Über ihre Köpfe flog ein kleiner Sportflieger. Er zog ein breites weißes Band hinter sich her. Merkur-Versicherung wünscht ein frohes neues Jahr. Wanja stöhnte auf. »Mann, die spinnen doch.« Aber Mischa stieß sie an. Als Wanja wieder nach oben sah, war der Satz weg. Stattdessen stand in roten Buchstaben ein neuer Satz auf dem Band. »Der nächste Besuchstag ist der 5. Januar, um 14:30 Uhr.«
E S KOMMT NOCH SCHLIMMER
    I ch würde die Antwort lieber von Ihnen hören, junges Fräulein!«
    Wanja schreckte aus ihren Gedanken. Warum musste der 5. Januar ausgerechnet ihr erster Schultag sein und Mathe ihre letzte Stunde? Langsam hob sie den Kopf, hatte das trotzige Nein schon auf den Lippen, als sie verwirrt feststellte: Herr Schönhaupt meinte gar nicht sie. Er stand vor Brittas Tisch.
    »4 Euro 99«, zischte Thorsten Wanja von hinten ins Ohr.
    »Hä?« Wanja drehte sich zu ihm um und Thorsten deutete grinsend auf Herrn Schönhaupts fleischwurstfarbenen Rollkragenpullover mit den grünen und braunen Karos auf der Brust. »Das Teil da. Lag bei Aldi auf dem Grabbeltisch und hat sich angefühlt wie Schmirgelpapier.
Aber farblich passt es genau zu seinem Zopfband, was?« Kerim neben Thorsten prustete los und Wanja schüttelte sich, als trüge sie den Pulli selbst auf der bloßen Haut. Dann drehte sie sich wieder zu Britta um, die jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und der ganz offensichtlich nicht zum Grinsen zu Mute war. Mit hochrotem Gesicht starrte sie Herrn Schönhaupt an. Sie war noch stärker geschminkt als sonst und die Träne, die ihr aus den Augen rollte, verwischte den blauen Lidstrich.
»Tja-ja, Fräulein Sander«, Herr Schönhaupt trat einen Schritt zurück. »Gerade von dir hatte ich mir mehr erhofft.« Er zückte sein schwarzes Buch und legte sein dünnes Lächeln aufs Gesicht. »Aber da sieht man einmal, wie man sich in Menschen täuschen kann. – Thorsten?« Als die Stunde zu Ende war, ging Wanja an Brittas Tisch. »Lass dich von dem miesen Fettkopf nicht fertig machen. Wo andere ihr Herz sitzen haben, hat der eine Null Komma Null zum Quadrat.«
Britta biss sich auf die Lippen und drehte den Kopf weg. Wanja zuckte mit den Schultern, packte ihre Schultasche und ihre Jacke und rannte nach draußen zu den Fahrradständern. Dort wartete Mischa schon auf sie. Auf dem Weg zum Museum

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