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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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doch dann fing er an zu schreien. Er schrie und schrie wie ein Verrückter, dann stürzte sich er auf den Vogel, aber er bekam ihn nicht zu fassen, die schwarzen Flügel wichen ihm jedes Mal aus und schlugen seine Hände zurück. Taros Hemd war schon in Fetzen. Blut tropfte aus seinem Arm und Wanja sah entsetzt, dass es schwarz war, pechschwarz wie Tinte, und dick war es, widerlich dick. Es tropfte auf Taros graue Hose. Vor wenigen Sekunden war sie noch grün gewesen. Wanja öffnete den Mund, aber es kam kein Schrei.
    Dann, plötzlich, als hätte der Vogel erreicht, was er wollte, ließ er von Taro ab und flog davon. Die Farbe kehrte zurück, auf einen Schlag mit dem Gong, der jetzt ebenfalls ertönte – und in Wanja kam wieder Leben. Sie rannte auf Taro zu und umschlang ihn, während Mischa Steine hinter dem Vogel her schleuderte. Aber der war längst außer Sichtweite.

    Taro brachte ein Lächeln zu Stande, aber es wirkte erzwungen. »Da haben wir ja zwei Verletzte heute, was?«
    Mischa war auch zu ihm gekommen, sie stützten Taro, jeder ging an einer Seite. Aus seinem Arm, den Wanja hielt, tropfte das Blut jetzt rot, aber es blieb keine Zeit, ihn zu verbinden. Der Gong hatte geschlagen, sie mussten laufen, sonst würde etwas in ihnen für immer zurückbleiben. Diese Worte vergaß Wanja selbst jetzt nicht. So schnell sie konnten, liefen sie mit Taro aus dem Wald, vorbei an Perun, der ihnen entgegenkam und seine Hände vor den Mund schlug.
    Der Gong schlug zum zweiten Mal, jetzt waren sie in der Manege. Da war es wieder. Das Kribbeln in Wanja und die Sehnsucht. Das sonderbare Gefühl der Schwerelosigkeit, stärker noch als bei den Malen zuvor. Taro riss sie und Mischa an sich, drückte sie fest, dann griffen sie, zusammen mit dem dritten Gongschlag, in das schwarze Loch im Rahmen.
    Zurück im Saal, schienen Wanja und Mischa heute nicht die Einzigen zu sein, die etwas Schreckliches erlebt hatten. Das Mädchen mit den grünen Haaren weinte. Der dicke Junge, dessen Gesicht vorhin vor freudiger Erregung geglüht hatte, war leichenblass. Auch Natalie und Alex sahen besorgt aus, aber ihre Gesichter schienen eher die Gefühle zu spiegeln, die in Wanjas und Mischas Gesichtern geschrieben standen. Die alte Frau sah Wanja lange an. Dann verschwand sie, langsam und fast ein wenig schwankend hinter der hellen Tür auf der Bühne.
P OST
    K lack. Die Ziffern des Radioweckers kippten auf 9:00 Uhr. Es war Samstag, aber Wanja lag schon lange wach. Normalerweise liebte sie es, an den Wochenenden auszuschlafen. Richtig wachrütteln musste Jo sie manchmal – wenn ihre Opernmusik Wanja nicht weckte. Aber Opernmusik hatte Jo schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gehört, dazu war sie viel zu überarbeitet. Und Wanja hatte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr ausgeschlafen. Jedenfalls nicht an den letzten drei Wochenenden. So viel Zeit war seit ihrem letzten Besuchstag im Zirkus vergangen und Wanja musste unablässig an ihn denken. Vor allem wenn sie im Bett lag und alles um sie ruhig war. Abends, vorm Einschlafen. Morgens beim Aufwachen. 6:48 Uhr war es heute gewesen, als Wanja die Augen aufschlug, aufgeschreckt von einer Amsel, die gegen ihre Fensterscheibe geflogen war.
    Das einzig Gute an den zurückliegenden Ereignissen war, dass sie die unsichtbare Mauer zwischen ihr und Mischa zum Einstürzen gebracht hatten. Schon ein paar Mal hatte sich Wanja in den Schulpausen der letzten drei Wochen zu ihm gestellt, immer dann, wenn die Gedanken an den Vogel und die Sorge um Taro sie verrückt zu machen drohten. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt?« »Willst du dir von dem Penner Läuse holen?« »Jetzt sag bloß noch, du bist in den verknallt?« Wanja ließ die Bemerkungen an sich abprallen und über das »verknallt« musste sie sogar innerlich grinsen. Sollen die doch denken, was sie wollen, dachte sie, und nach drei Tagen gaben die anderen es auf.
    Mischa war genauso ratlos wie Wanja, aber es half ihr, mit ihm zu sprechen, es gab ihr das Gefühl, nicht allein damit zu sein. Über den »Mädchenclub« verlor er kein Wort mehr.
    Auch nicht darüber, dass die drei sie anglotzten und tuschelten. Und Taro, so beruhigte sie Mischa jedes Mal, ging es bestimmt gut. Die Verletzung am Arm hatte schlimm, aber nicht gefährlich ausgesehen und vielleicht würde Taro ja damit zu Amon gehen. Wenn der Alte es geschafft hatte, Gatas gebrochenes Bein zu behandeln, würde er auch mit einem verwundeten Arm zurechtkommen.
    Amon. Dieser seltsame,

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