Die geheime Sammlung
wie man die Hand von einer heißen Herdplatte wegzieht, noch bevor das Hirn merkt, dass es weh tut. Mein Herz schlug vor Aufregung schneller, aber ich war mir meiner Sache sicher.
Und sobald ich das akzeptiert hatte, begriff ich noch mehr. Ich konnte fast hören, wie die Räder in meinem Kopf ineinandergriffen; es war ein sanftes, perlendes Rasseln, wie Eiskristalle, die auf eine gefrorene Straße fallen. Die wandernden Sommersprossen, das Sicherheitssystem an der Tür – alles Zauberei. Das war so aufregend, dass mein Herz noch schneller schlug. Und die Stiefel! Deshalb hatte Marc sie ausgeliehen, und deshalb musste ich sie unbedingt zurückbringen. Und ihr intensiver, unfassbarer Geruch war der Geruch von Magie.
Ich schaute mich um. Alles hier musste verzaubert sein. Stiefel, Bücher, Tische, Fernrohre, einfach alles hatte magische Kräfte. Und der Spiegel … ich wandte mich ihm erneut zu. Mein Spiegelbild war unheimlich, es hatte ein kaltes, grausames Lächeln. So sah ich doch nicht wirklich aus, oder? Ich war vielleicht nicht die Schönste im Land, aber ich war mir sicher, dass ich nicht
böse
aussah. Veränderte der Spiegel mein Aussehen mit Absicht?
»Nenn mich nicht Eliza. Ich heiße Elizabeth«, platzte es trotz meiner Angst aus mir heraus. Eliza hatte ich immer gehasst. So nannten mich meine Stiefschwestern mit aufgesetztem Akzent, um mich zu ärgern.
Dieses Mal antwortete der Spiegel nicht.
Wenn er wirklich von Schneewittchens Stiefmutter stammte, hatte er einen Grund für seine schlechte Laune. Er hatte einer sehr bösen Person gehört. Ich bekam eine Gänsehaut. Aber in Grimms Märchen ging es ja nicht nur um Hexen und vergiftete Äpfel. Es gab auch gute Feen und freundliche Zauberei, wie Aschenputtels tote Mutter. Gab es hier auch wohlgesonnene Gegenstände?
Das Gefühl, von lauter Zauberei umgeben zu sein, war jetzt furchteinflößend und bedrückend. Kein Wunder, dass Dr.Rust diese Gegenstände als »mächtig« bezeichnet hatte.
Ich sah mich noch einmal um. An der Schiebewand neben dem eigensinnigen Spiegel hingen mehrere weitere Spiegel und ein gutes Dutzend Bilder. Es gab ein Bild von einem Schiff, von einem Drachen, einem schrecklich gierig schauenden alten Mann und ein Bild, das so schwarz war, dass ich nichts darauf erkennen konnte. Keines der Bilder sah besonders wohlmeinend aus, und das schwarze war eindeutig bedrohlich.
Anjali ließ sich ja ganz schön Zeit damit, mich zu befreien. Gab es hier etwas, mit dem ich entkommen konnte? Vielleicht ein fliegender Teppich? Ich konnte kaum glauben, dass ich ernsthaft über einen fliegenden Teppich nachdachte. Aber selbst wenn ich einen gefunden hätte, hätte ich immer noch in der Falle gesessen. Was sollte ich im Inneren eines Gebäudes mit einem fliegenden Teppich?
Ich dachte an andere verzauberte Gegenstände aus den Märchen. Was für ein glücklicher Zufall, dass ich gerade ein Referat über die Brüder Grimm verfasst hatte. War das wirklich ein Zufall? Wer hätte gedacht, dass die vielen Tagträumereien über Märchenbücher in meiner Kindheit sich jemals auszahlen würden?
In
Die zertanzten Schuhe
kam ein Unsichtbarkeitsmantel vor. Falls der hier im Archiv wäre, könnte ich mich vielleicht bei der Tür verstecken und herausschlüpfen, wenn das nächste Mal ein Bibliothekar hereinkam. Mama und ich hatten dieses Märchen sehr geliebt. Unter dem Bett der ältesten Prinzessin war eine Falltür, durch die die Prinzessinnen sich jede Nacht hinausschlichen, um mit den zwölf schönen jungen Prinzen zu tanzen. Die Mädchen zertanzten dabei sogar ihre Schuhe. Auf die jüngste Prinzessin war ich besonders neidisch gewesen. Sie hatte viele Freunde, bekam reichlich Aufmerksamkeit von jungen Männern, und ihre älteren Schwestern mochten sie und waren gern mit ihr zusammen. Dafür musste sie sich allerdings auch das Zimmer mit elf älteren Schwestern teilen.
Es gab natürlich ein paar verzauberte Gegenstände, die mir mehr nutzen würden als ein Unsichtbarkeitsmantel. Es gab ohne Ende Gegenstände, die Wünsche erfüllten. Meistens hatte man drei Wünsche frei und musste sie sorgfältig formulieren. Als ich klein war, hatte ich an manchen Tagen Stunden damit verbracht, mir meine Wünsche für nur einen Tag meiner Kindheit zurechtzulegen.
Was sollte ich mir wünschen? Ein Heilmittel gegen Krebs? Glückseligkeit für alle? Vielleicht den Weltfrieden? In den Märchen wünschten sich die Helden immer nutzloses Zeug wie Würstchen, oder sie
Weitere Kostenlose Bücher