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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Shulman
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verwandelten einander in Esel und wieder zurück. Und manchmal gingen die Wünsche auch nach hinten los: Jemand wünschte sich einen Sack voll Gold, und der fiel ihm dann auf den Kopf und erschlug ihn.
    Selbst wenn ich einen Wunschring finden würde, war ich mir also gar nicht sicher, ob ich auch den Mut hätte, ihn zu benutzen. Am Ende wünschte ich mir, das Grimm-Sammelsurium verlassen zu können – und später würde man mich auf einer Bahre heraustragen.
    Das war mir zu unheimlich. Ich wollte raus aus diesem vor Zauberei triefenden Raum und irgendwo in Ruhe darüber nachdenken, wo alles sicher und normal war und nach Alltag roch, also nach Staub und Abendessen und nicht nach dem flüchtigen Geruch der Verzauberung. Und hätte ich wirklich drei Wünsche frei, wüsste ich genau, wofür ich sie verwendet hätte – meine Mutter wäre wieder am Leben, mein Vater wieder er selbst und meine beste Freundin Nicole wäre immer noch hier statt in Kalifornien.
    Ich drehte mich nach dem Spiegel um. Er lächelte immer noch grausam.
    Wo blieb Anjali denn nur? Es war doch schon fünfzehn Uhr!
    Oha, das reimte sich. Ich sprach es laut aus:
    »Es ist doch schon fünfzehn Uhr.
    Wo bleibt Anjali denn nur?«
    Mein Spiegelbild hob eine Augenbraue und antwortete:
    »Liz, hast du mich grad gestört?
    Sie ist, wo sie hingehört.«
    »Nein, ich habe nicht mit dir gesprochen, ich habe mit dem Bild neben dir geredet«, log ich. »Und ich heiße auch nicht Liz, sondern Elizabeth.«
    Der Spiegel antwortete nicht, aber im Bild daneben bewegten die tiefschwarzen Formen sich in einer nicht zu fassenden Weise – anders als alles, was ich je in einem Film gesehen hatte. Es sah aus wie etwas, das man sieht, wenn man die Hände gegen die verschlossenen Augen presst. Oder wie ein Traum, der verschwindet, kaum dass man sich beim Aufwachen an ihn erinnert hat.
    Überraschenderweise wurden die Formen zu einem Bild von Anjali, die im Hauptuntersuchungsraum schwer arbeitete. Sie rollte auf ihrem Stuhl so schnell hin und her und warf Pneus in die Röhren, dass mir fast schwindlig wurde. Anscheinend war da oben richtig viel los. Kein Wunder, dass sie nicht zu mir kommen konnte.
    »Wow. Kannst du mir alles zeigen, wonach ich frage? Kannst du mir meine Freundin Nicole zeigen?«
    Keine Antwort, ich sah weiterhin nur Anjali.
    Musste ich hier auch gereimt sprechen? »Bildlein, Bildlein am Regal, zeig ein Bild mir von Nicole«, versuchte ich es zaghaft.
    Mein gelangweiltes Abbild im Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter verdrehte die Augen und sah mich verächtlich an.
    »Tut mir leid, das hat sich nicht richtig gereimt, stimmt’s?« Ich dachte nach.
    »Bildlein, Bildlein wundervoll,
    zeig ein Bild mir von Nicole.«
    Es klappte. Das Bild zeigte wieder ein paar Formen, die mich schwindeln ließen, löste Anjali in geometrische Formen auf, die wild durcheinanderstürzten, und hellte sich schließlich auf. Nicole ging in Kalifornien mit neuen Freundinnen einkaufen, probierte Kleidung an und lachte lautlos. Jedenfalls hörte ich keinen Laut. Ich konnte mir das Lachen und Kreischen vorstellen, aber es war wie eine grauenhafte Reality Show im stumm geschalteten Fernseher. Ich fühlte mich einsamer und hilfloser als je zuvor in meinem Leben.
    »Vielen Dank, das war sehr schön. Anjali will ich jetzt seh’n«,
sagte ich.
    Es geschah nichts. Das war wohl kein guter Reim gewesen.
    »Bildlein, zeig mir bitte die,
    die ich meine: Anjali.«
    Wieder ein paar wirbelnde Formen, und dann sah ich Anjali mit ihren Pneus. Da hörte ich ein Klicken und Quietschen. Endlich öffnete sich die Tür. Aber es konnte nicht Anjali sein. Die arbeitete ein paar Stockwerke höher im HU .
    »Es ist vorbei. Du hast jetzt frei«,
flüsterte ich dem Bild zu. Gott sei Dank akzeptierte es das als Reim und versank in Dunkelheit, während ich mich hinter der Bilderwand versteckte.

[home]
    Kapitel 8
    Ein Multiple-Choice- Test und eine Vielzweckklemme
    E lizabeth? Bist du da drin?« Es war Marcs Stimme. Ich kroch hinter der Bilderwand hervor. Er stand am Ende des Raums und hielt die Tür mit einem lang gestreckten Bein offen. »Beeil dich, wir müssen hier weg«, drängelte er.
    Ein Schauer der Erleichterung lief mir über den Rücken, als die Tür hinter uns ins Schloss fiel.
    Marc nahm zwei oder drei Stufen auf einmal, während ich keuchend ihm hinterher die Treppe hinauflief. Als ich noch Ballett hatte, war ich besser in Form gewesen.
    Marc wartete auf mich am dritten Treppenabsatz. »Komm

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