Die geheime Stunde
den Kopf zu wachsen drohte, schlich ich mich manchmal aus dem Haus und ging zum Bach hinunter.«
»Ganz alleine?«
Kate nickte. »Nur um wegzukommen. Dort gab es einen hohen Felsen, auf den ich kletterte. Von dieser Stelle aus konnte ich das Meer sehen, hinter den Dünen. Die Wellen waren riesig, ich hörte sie gegen das Ufer branden. Ein unglaubliches Getöse … während der Bach leise und friedlich vor sich hin plätscherte.«
»Eine Energie anderer Art«, sagte John, und beide schwiegen, lauschten dem Bach. Kate schloss die Augen, und er stellte sich vor, wie sie auf ihrer Insel dem leisen Murmeln des Wassers zuhörte, das über Stock und Stein sprang. Daher stammt die Farbe ihrer Augen, dachte er. Diese einmalige Mischung aus Grau, Grün und Blau; die Farbe eines Baches, der nach Westen fließt.
»Das war meine geheime Stunde.«
»Die Zeit, die Ihnen alleine gehörte.«
Sie nickte lächelnd.
»Es kommt mir vor, als hätte ich auch gerade eine«, sagte John und blickte in ihre schönen Augen. Kate schien die Verbindung zu spüren, trat einen Schritt näher. »Eine geheime Stunde. Ich empfinde einen inneren Frieden wie schon lange nicht mehr.«
»Das geht mir genauso.«
Plötzlich verspürte John ein nie gekanntes Glücksgefühl. Er hätte für immer hier stehen bleiben mögen, aber er nahm ihre Hand und setzte den Weg gezwungenermaßen fort. Die Hunde patschten durch das Wasser, dann rannten sie über das letzte Stück der Wiese. Das weiße Haus lag unmittelbar vor ihnen … sie waren gleich da.
Als Maggie nach der Schule zu Gramps kam, betrat sie die Diele und zog ihre Jacke aus. Den weißen Schal behielt sie um, weil sie sich nicht von ihm trennen mochte. Sie fühlte sich besser, wenn sie ihn trug, und sie brauchte derzeit jede Hilfe und Aufmunterung, derer sie habhaft werden konnte. Teddy hatte versprochen, ihr zu helfen …
»Teddy?«, rief sie. »Bist du schon da?«
Sie wollten Platzkarten als Tischdekoration für Thanksgiving basteln. Das war ihre Idee, weil sie gerne zeichnete und der Meinung war, dass eine kleine Aufheiterung allen gut tun würde. Sie würden ein paar Bögen von dem dicken Briefpapier ihres Vaters nehmen und so falten, dass man sie aufstellen konnte, bemalt mit Bildern von den Pilgervätern, Indianern und Truthähnen.
Maggie streifte durchs Haus, auf der Suche nach ihrem Bruder. Sie wusste, dass es noch zu früh war – er hatte nicht genau sagen können, wann das Training zu Ende sein würde, und sie gebeten, sich zu gedulden, bis er nach Hause kam. Trotzdem hatte sie gehofft, dass er schon da wäre.
Sie roch Silberpolitur. In zwei Tagen war Thanksgiving. Der Gedanke stimmte sie traurig, sie vermisste ihre Mutter und ihr Zuhause. Alle bedeutsamen Feiertage bewirkten das Gleiche – sie fühlte sich, als wäre eine große Lücke in ihrer Seele entstanden, die sich nie mehr füllen ließ.
Na gut, dann war Teddy eben nicht da. Maggie war frustriert und enttäuscht. Sie hätte am liebsten sofort mit dem Projekt begonnen. Aber noch mehr wünschte sie sich, wieder zu Hause zu sein. In ihrem eigenen Haus, nicht bei Gramps. Sie würde das Silber polieren, ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern – die große Vorlegeplatte für den Truthahn und die Sauciere mit den ineinander verschlungenen Initialen, die ein verwirbeltes Monogramm bildeten. Sie würde die Kristallgläser auswaschen, in Wasser mit ein paar Tropfen Ammoniak, und sie anschließend mit Zeitungspapier trocken reiben – das beste Mittel, um sie auf Hochglanz zu bringen.
Sie sehnte sich nach ihrem eigenen Zimmer, nach ihren eigenen Sachen – nach all ihren Kuscheltieren, Büchern und Postern. Ihr gefiel der Geruch ihres Zuhauses; er unterschied sich irgendwie von jedem anderen Ort auf der Welt. Dorthin gelangte die salzige Luft, die den Geruch nach Seetang, Muschelschalen und Besengras mit sich brachte. Gramps’ Haus war so weit vom Meer entfernt, dass man ihn nicht mehr wahrnehmen konnte.
Als sie wieder in die Diele zurückkehrte, bemerkte sie plötzlich den Briefumschlag auf dem Tisch. Er war an sie adressiert. Aufgeregt riss Maggie ihn auf; er enthielt ein paar Zeilen von Kate.
Liebe Maggie,
Danke für deinen Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich bin froh, dass dir der weiße Schal gefällt. Thanksgiving steht vor der Tür … einer meiner Lieblingsfeiertage! Magst du ihn auch so gerne? Als meine Schwester so alt war wie du, habe ich ihr gesagt, dass man für alles Gute im Leben dankbar sein
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