Die geheime Stunde
sie ging und die eiskalte Luft mit jedem Atemzug in ihren Lungen brannte, wurde ihr eines klar.
Sie war wegen Thanksgiving hierher gekommen.
In Silver Bay fühlte sie sich Willa nahe. Wo immer sie derzeit auch sein mochte, hier spürte sie ihre Gegenwart. Während sie über die Landzunge ging, wusste sie genau, was ihre Schwester zu diesem Ort hingezogen hatte: das Geräusch der Brandung, die goldenen Gräser, der schmucke Leuchtturm. Kate wollte nicht, dass ihre Schwester allein war.
Teddy würde sie verstehen. Und Maggie auch.
Als sie auf der felsigen Landzunge entlang in östlicher Richtung ging, wünschte sie sich, der Vater der beiden hätte eigene Geschwister gehabt. Dann hätte er die unvorstellbar enge und unauslöschliche Bindung kennen gelernt, die entstand, wenn man von demselben Elternpaar abstammte und am selben Ort aufgewachsen war.
Als sie einen Abstecher zu seinem Elternhaus gemacht und mit seinem Vater gesprochen hatte, war ihr der Gedanke gekommen, dass irgendetwas nicht stimmte. John war zu Hause, aber er ließ sich nicht blicken. Vielleicht war er zu dem Schluss gelangt, dass er den Kontakt abbrechen sollte – zwar hatte er sie in Washington angerufen, um sie über den Fund der Leiche zu informieren, hielt es aber aufgrund seiner ethischen Verpflichtung für besser, sich künftig von ihr fern zu halten.
Bei dem Gedanken fröstelte sie, und sie zog den Mantel enger um sich, gegen den Wind ankämpfend, der ihr nun ins Gesicht blies. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie gehofft hatte, ihn zu sehen, bis er sich geweigert hatte, an die Tür zu kommen. Den Kopf gesenkt, damit die Kälte nicht in ihren Augen brannte, spürte sie, wie der Wind immer stärker wurde. Eine Böe fegte über das Wasser, und die glatte Oberfläche des Sunds zerbarst in eine Vielzahl kleiner kabbeliger Wellen.
Plötzlich begann Bonnie zu bellen. Sie zerrte an der Leine, renkte Kate beinahe die Schulter aus. Kate blickte verdutzt hoch und schnappte nach Luft. Als sie Bonnie nachsah, die über die Wiese preschte, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, das immer strahlender wurde.
Auf dem Weg zum East Wind Inn hatte John versucht, den Psychiater via Piepser zu erreichen und die Nachricht zu hinterlassen, dass er mit Verspätung im Gefängnis eintreffen werde. Auf dem Weg zum Leuchtturm hatte er zwei Gestalten entdeckt, die den Fußweg am Riff entlanggingen. Die eine war hoch gewachsen, die andere, kurz geraten, bewegte sich dicht über dem Boden. Kate und Bonnie.
Er parkte seinen Wagen auf der unbefestigten Wendestelle, wo die Fischer im Sommer und zu Beginn des Herbstes ihre Lieferwagen abstellten, um über die Dünen zu klettern und ihr Glück mit dem Fang von Blaufischen und Streifenbarschen zu versuchen; er ließ Brainer aussteigen, und damit war alles gesagt, auch ohne Worte.
Die Sprache der Hunde war beredt genug. Sie bellten wie verrückt, während sie aufeinander zuliefen, schlugen Purzelbäume in dem hohen braunen Gras. Wenn es in der menschlichen Sprache einen Ausdruck dafür gab, dann hätte John es mit »Glückseligkeit« übersetzt.
Merkwürdigerweise weckte der Anblick von Kate Harris das gleiche Gefühl in ihm. Sie gingen durch das kniehohe Alkaligras aufeinander zu, und John merkte, dass er lächelte, wie seit Tagen oder Wochen nicht mehr. Beim Näherkommen bemerkte er ihre vom Wind geröteten Wangen, ihre heiteren, strahlenden Augen. Er staunte über ihr Lächeln: Sie schien sich genauso über das Wiedersehen zu freuen wie er.
»Hallo«, sagte sie.
»Habe ich Sie also doch noch gefunden.«
»War das so schwierig?«
»Nun, ich musste sowieso ins East Wind. Mein Vater sagte mir, dass Sie wieder dort abgestiegen sind.«
»Ja. Ich habe es in Washington nicht mehr ausgehalten, ich musste herkommen.«
Er nickte. Er verstand ihr Bedürfnis, den jüngsten Mordfall aus nächster Nähe zu verfolgen. Das kam oft vor: Die Angehörigen von Menschen, die mit einem Verbrechen in Berührung gekommen waren, wurden von ähnlich gearteten häufig aufs Neue traumatisiert.
»Wegen Amanda Martin?«
»Ja. Ich habe mir eine Lokalzeitung besorgt und den Artikel über sie gelesen … das Mädchen, das Schiffe liebte.«
»Ja, so hieß es.« John beobachtete ihre Augen.
»Gibt es noch andere Neuigkeiten?«
Er zögerte, spähte die Küste entlang. Der kalte Wind brannte in seinen Augen. Er dachte an die neuesten Einzelheiten in dem Fall, an sein letztes Gespräch mit Merrill und das Funkeln in den Augen seines
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