Die geheime Stunde
lassen.«
»Ich kenne dich ja überhaupt nicht.« Ihre Blicke begegneten sich. Der Bus wurde langsamer, das Getriebe knirschte.
»Du bist ein guter, verantwortungsbewusster Bruder. Du liebst deine Schwester genauso wie ich meine.«
Er nickte.
»Dann ab mit dir in die Schule – ihr zuliebe. Egal, wie schwer es dir fällt. Ich verspreche dir, dass ich gut auf sie aufpassen werde. Mach dir deswegen keine Sorgen.«
Der Bus hielt vor der Haustür. Teddys Finger auf dem Rucksack zuckten. Maggie hatte Brainer noch immer umklammert, das Gesicht in dem struppigen Fell vergraben.
»Lass das«, sagte er und rüttelte seine Schwester an der Schulter. »Willst du einen Zeckenbiss haben? Oder dir das Gesicht an den verflixten Dornen zerkratzen?«
»Es stört mich nicht, dass Brainers Fell struppig ist. Ich sehe genauso schlimm aus! Wir sind Leidensgenossen.«
»Der Hund braucht dringend ein Bad«, knurrte Teddy mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich schwöre dir, ich lasse heute Abend das Training ausfallen, um ihm höchstpersönlich eines zu verpassen. Ich werde jede einzelne Zecke, jede verfilzte Haarsträhne entfernen.«
»Lass gut sein, Teddy«, sagte Kate sanft. »Gib du nur auf dich selbst Acht. Ich werde Maggie und Brainer unter meine Fittiche nehmen.«
»Weil du deine Schwester auch unter deine Fittiche genommen hast?«
Kate nickte. »Und ihren Hund.«
Sie blickte Teddy an, und plötzlich wusste er: Sie gehörten zum selben Menschenschlag. Kate war zwar älter, eine Frau und eine Fremde, aber sie befanden sich beide auf einer Wellenlänge, was die Dinge betraf, die im Leben wirklich zählten.
Teddy zweifelte nicht daran, dass Kate die Wahrheit sagte: Sie liebte ihre Schwester.
Und sie würde sich um Maggie kümmern – zumindest so lange, bis Teddy von der Schule und sein Vater von der Arbeit nach Hause kamen. Der Busfahrer hupte.
»Also gut«, sagte Teddy entschlossen, als der Fahrer den Motor anließ und abfahren wollte.
Kate riss die Haustür auf. » HALT !«, schrie sie.
Der Bus blieb stehen. Teddy zog in Windeseile seine Jacke an, schnappte seinen Rucksack. Maggie sah nicht auf. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er strich seiner Schwester über das Haar – es war fast so zottelig wie Brainers – und schickte sich zum Gehen an.
»Du bist die beste Schwester der Welt, Mags.«
Sie antwortete nicht, hob nicht einmal den Kopf. Kate hielt die Tür auf, und Teddy lief die Stufen vor dem Haus hinunter. Er rannte durch den Vorgarten, sah den offenen Mund des Fahrers, seine neugierige Miene – die Scheibe des Küchenfensters bestand nur noch aus messerscharf gezackten Scherben. Teddy sprang auf das Trittbrett des Busses und drehte sich um, warf einen letzten Blick auf das Haus. Gelbe Blätter rieselten von den Bäumen im Garten herab.
Kate stand auf der Türschwelle.
Das kalte Oktoberlicht fiel auf ihr Gesicht, auf ihr braunes Haar. Ihre Augen glänzten, die Andeutung eines Lächelns widerspiegelnd, als sie Brainer tätschelte. Teddy blickte unverwandt zu ihr hinüber, als er sich den Weg zu seinem Platz bahnte, erinnerte sich an die vielen Male, als seine Mutter auf der Türschwelle gestanden, ihm nach gewunken und gelächelt hatte, wenn der Bus abfuhr; damals war Brainers Fell seidig und goldfarben gewesen. In dem Moment nutzte Maggie die Chance, hinter Kate hervorzulugen und ihm zuzuwinken.
Kate winkte nicht. Teddy auch nicht. Sie blickten einander an, aber er hatte das Gefühl, dass sie beide dabei an andere Menschen dachten. Andere Menschen, die sie vermissten, die nicht mehr da waren.
Der Bus fuhr schneller, bog um die Ecke, kam an die Stelle, wo der Deich steil zur Felsenbucht und zu den Wellenbrechern abfiel, vorbei an dem Fußweg, der zu dem hohen, entlegenen Leuchtturm führte, und das große weiße Haus, in dem Teddy wohnte, entschwand der Sicht.
In der Notaufnahme ging es zu wie in einem Bienenstock. Wäre John O’Rourke ein geschäftstüchtiger Anwalt gewesen, hätte er auf Schritt und Tritt neue Mandanten gewinnen können. Im Untersuchungsraum 1 wartete eine alte Frau, die ausgerechnet in der All-Save-Versicherung ausgerutscht und hingefallen war, darauf, dass ihre Hüfte geröntgt würde; in Untersuchungsraum 2 wurde ein Kind, das unter Atemnot litt, weil sein Inhalator versagt hatte, mit Sauerstoff versorgt und von einem EKG überwacht; Untersuchungsraum 4 enthielt einen Drogensüchtigen, den man dort untergebracht hatte, bis ein Bett in der Entgiftungsabteilung frei
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