Die geheime Stunde
wurde; er litt unter Entzugserscheinungen, warf sich wild herum und stöhnte. Das Ausmaß der Schmerzen stand dem Ausmaß der anhängigen Gerichtsverfahren in nichts nach.
John, in Untersuchungszimmer 3, bekam wohl oder übel alles mit. Während er auf den nächsten Aufmarsch der Ärzte wartete, versuchte er sich in den Schriftsatz zu vertiefen, den er von zu Hause mitgenommen hatte. Ihm war schwindelig und speiübel. Als er das Dokument sinken ließ, sah er seinen Tischkalender drohend vor sich aufragen und dachte, dass er eigentlich keine Zeit hatte, hier untätig herumzusitzen.
Warum hatte er nicht wenigstens die Kinder zum Schulbus gebracht? Inmitten der absoluten Sinnlosigkeit des Lebens beruhigte ihn das Wissen, dass er ein guter Vater war. Zugegeben, mit seinen Fertigkeiten beim Haareschneiden war es nicht weit her. Aber die grundlegenden Bereiche des Alltags hatte er abgedeckt: Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Fahrgemeinschaft. Kinderbetreuung. Er hoffte, dass sich Kate Harris als Glücksgriff entpuppte, besser war als ihre namenlosen Vorgängerinnen, die Phalanx der Kindermädchen X.
»Hallo, guten Morgen!«, begrüßte ihn eine MTA , die gekommen war, um ihm Blut abzunehmen. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen – Nadeln waren ihm schon immer verhasst. Auch wenn seine Kinder eine Spritze bekamen und er ihnen Mut zusprach, fühlte er sich innerlich unwohl. »Können Sie mir sagen, wie lange das hier noch dauert?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen.
Die MTA schmunzelte. »Erzählen Sie mir bloß nicht, es gäbe etwas Wichtigeres als Ihre Gesundheit, worüber Sie sich den Kopf zerbrechen!« Sie warf einen flüchtigen Blick auf seine Platzwunde; ein Arzt, der nach Kaffee und Erdnussbutter roch, hatte sie mit kühlen Händen genäht. Die Betäubung ließ allmählich nach, und die Naht spannte.
Die MTA ließ sich Zeit. Hatte sie ihn erkannt? Hatte sie vor, ihm die Nadel extra hart in den Arm zu rammen, weil er Greg Merrills Anwalt war? John knirschte mit den Zähnen, wartete auf den Einstich.
Zack – die Nadel durchbohrte die Haut. Er sah sein eigenes Blut, das durch die dünne Kanüle floss. Er fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ein weiterer Grund für seine Kinder zu lachen – wenn sie wüssten, dass ihr Dad kein Blut sehen konnte. Er wandte den Blick ab, fixierte die Decke, fühlte sich gleich besser, doch dann überkam ihn die Erinnerung an Theresa.
Man hatte sie nach dem Unfall hierher gebracht.
John war zu Hause bei den Kindern gewesen. Nach dem Anruf hatte er Teddy gebeten, auf seine Schwester aufzupassen, während er mit Höchstgeschwindigkeit ins Krankenhaus fuhr. Er war durch die breiten Türen geeilt, in die hell beleuchtete Eingangshalle, zur Aufnahme …
Er hatte es geahnt, noch bevor sie es ihm sagten: Seine Frau war tot.
Eine tragische Verkettung von Umständen, wie so häufig im Leben: Obwohl sie sich ohne fremde Hilfe aus dem Autowrack befreit und rein äußerlich keine Schramme davongetragen hatte, war ihr Brustkorb mit voller Wucht gegen das Lenkrad geprallt. Dabei war eine Herzarterie durchtrennt worden – war in zwei Hälften zerrissen –, so dass sie verblutet war, noch bevor das Kardiologenteam eine Chance hatte, mit der Arbeit zu beginnen.
Seine schöne Frau. Seine goldhaarige, blauäugige Theresa. Ein altmodischer, rustikaler Name für eine zarte Frau mit einer Haut wie Porzellan. An dem Abend, als sie starb, hatte sie einen kräftigen pinkfarbenen Lippenstift getragen. Einen schimmernden, kühlen Lippenstift, frisch aufgelegt … Die Erinnerung versetzte ihm unverhofft einen Stich, wie ein Messer zwischen den Rippen.
»Mr. O’Rourke?«, sagte der Arzt, der gerade mit Johns Patientenakte in der Hand die mit einem Vorhang abgeteilte Behandlungskabine betrat.
»Ja?« John war benommen, noch aufgewühlt, weil er plötzlich Theresas Lippen vor sich gesehen hatte.
»Die Röntgenaufnahmen sehen gut aus. Kein Hinweis auf eine Gehirnerschütterung, obwohl ich Ihnen empfehlen würde, es langsam angehen zu lassen und darauf zu achten, ob sich nicht doch noch Symptome einstellen. Sie werden ein ziemlich großes Hämatom bekommen – Blutergüsse sind bei solchen Verletzungen unvermeidlich, und ich habe außerdem einem plastischen Chirurgen Bescheid gesagt, damit er sich die Sache einmal anschaut.«
»Wem?«
»Einem plastischen Chirurgen. Die Platzwunde war tief, und Sie werden eine hässliche Narbe zurückbehalten. Die Folgebehandlung sollten Sie gleich abklären,
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