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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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damit Sie es später nicht bereuen.«
    John schüttelte den Kopf, griff nach seinem Aktenordner. »Das ist schon in Ordnung so. Damit kann ich leben.« Er dachte plötzlich an die hämische Bemerkung des Polizisten über die Narbe, die ihm helfen würde, von den Gefängnisinsassen als ihresgleichen akzeptiert zu werden.
    Er unterschrieb die erforderlichen Entlassungspapiere. Als er sich über den Empfangstresen beugte, spürte er, dass einige Angehörige des Krankenhauspersonals ihn beobachteten. Als er die Papiere über den Tresen schob und sich bedankte, hörte er eine Sekretärin zu ihrer Kollegin sagen: »Ob er weiß, dass eines der Mädchen hier gestorben ist?« Und eine andere fügte merklich lauter hinzu: »Nachdem der Mörder sie schwer verletzt ihrem Schicksal überlassen hat.«
    Johns Kopf begann zu hämmern.
Das ist ein Krankenhaus
, sagte er sich.
Hier sterben viele Menschen
.
Theresa auch
 … Er eilte davon, durch die breiten Türen. Der Herbsttag war klar und frisch; die Luft war eisig, die schneidende Kälte bohrte sich in sein Zentralnervensystem wie ein Messer, schärfte zusätzlich seine Aufmerksamkeit.
    Auf dem Weg zum Parkplatz, als er seine Taschen auf der Suche nach den Autoschlüsseln abklopfte, fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er mit der Ambulanz gekommen war. Er ergatterte ein Taxi, das gerade einen Fahrgast absetzte. Er gab die Adresse der Kanzlei an, doch dann besann er sich eines Besseren und bat den Fahrer, ihn nach Hause zu bringen, damit er sein blutiges Hemd wechseln konnte.
    Als er sich im Sitz zurücklehnte und ihm nichts anderes zu tun blieb, als sich chauffieren zu lassen, gingen ihm die Namen wieder durch den Kopf.
    Antoinette Moore,
dachte er. Sie war diejenige, die im Shoreline General gestorben war. John kannte den Fall und die Opfer in- und auswendig; er hatte ihre Lebensgeschichte verinnerlicht, trug sie ständig mit sich herum. Antoinette, Toni genannt … neunzehn Jahre alt. Studentin im zweiten Jahr am Bushnell College, eine Langstreckenläuferin, die für ihren ersten Marathon trainierte. Zierlich, drahtig, mit kurzen dunklen Haaren. Die Eltern lebten in Akron, Ohio. Ein älterer Bruder, zwei jüngere Schwestern.
    Eine Familie, die sich nahe stand, und sie hatten sie nach Connecticut geschickt, in den Tod.
    Sie war nicht gleich gestorben. Merrills Morde liefen stets nach dem gleichen Muster ab: Er wartete, bis die Wellen den Mund seines Opfers erreichten, bis sie verbluteten oder ertranken; doch an jenem Tag hatte er die Gezeiten falsch berechnet, und Toni hatte als Einzige lange genug gelebt, um vor dem Ertrinken gerettet werden zu können.
    Er hatte sie, wie die anderen, in einem Wellenbrecher liegen lassen – in diesem Fall einer aus Steinen und Holz errichteten Mole, die zu einem Privatgrundstück gehörte. Er hatte ihr die Kehle aufgeschlitzt, hatte sie zwischen die verwitterten Bretter am Ende der Mole geklemmt und darauf gewartet, dass die Flut sie mit sich riss.
    Er hatte nicht mit der beispiellosen Stärke, der eisernen Entschlossenheit der Marathonläuferin gerechnet. Toni hatte sich mit blutender Kehle aus ihrem nassen Grab befreien können, war auf die Mole gekrochen, wo sie Luft bekam und gesehen werden konnte. Ein Hummerfänger, der seine Fallen überprüfte, hatte sie entdeckt; seine Aufmerksamkeit war von der scharlachroten Farbe des Blutes gefesselt worden, das aus ihrem Körper rann, und zuerst hatte er gedacht, eine seiner Bojen habe sich in der Mole verfangen.
    Sie war im Shoreline General gestorben, eine Dreiviertelstunde später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
    John schloss die Augen, stellte sich Tonis Gesicht vor, das er von den Fotos in seiner Akte kannte. Die Schleusen waren nun weit geöffnet: Die anderen Namen, Gesichter und Fakten stürmten auf ihn ein.
    Anne-Marie Hicks:
siebzehn Jahre alt, einen Meter sechzig groß, blonde Locken, Zahnspange, spurlos verschwunden an einem Nachmittag im April; ihre Leiche hatte sich in Angelschnüren verfangen.
    Terry O’Neal:
zweiundzwanzig, Model, hübsch, dunkle intelligente Augen, erschien nicht zur Arbeit in der Versicherungsagentur ihres Vaters; die Leiche wurde von zwei Jungen gefunden, die vor dem Hawthorne Town Dock Krebse fingen.
    Gayle Litsky
: achtzehn, lange blonde Haare, hatte eine Auszeit vom College genommen und wieder bei ihren Eltern gewohnt, wurde das letzte Mal auf dem Weg ins Kino gesehen; ihre Leiche war zwischen den Felsen eines Wellenbrechers von Black Hall

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