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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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verhindern, dass sie weggeblasen wurde. Ihr Vater hatte gewusst, wie viel Furcht ihr das Bild einjagt hatte, und ihr versichern wollen, dass ihr niemals etwas so Schreckliches widerfahren würde. Es kam ihr so vor, als ob die neuen Gardinen vor ihrem Schlafzimmerfenster etwas damit zu tun hätten.
    Dieses eine Foto hatte Maggie in Angst und Schrecken versetzt, mehr, als jemals zuvor in ihrem Leben. Vielleicht bedeutete es ihr deshalb so viel, dass Kate ihr den weißen Schal geschenkt hatte. Sie trug ihn auch jetzt, er verlieh ihr Mut.
    Frische Reifenspuren durchzogen den schlammigen Boden, wahrscheinlich stammten sie vom Leuchtturmwärter. Bei Gebäuden, die so nahe am Meer lagen, gab es immer viel zu reparieren. Der Weg gabelte sich hinter der schweren Kette, die quer darüber gespannt war. Die eine Abzweigung führte landeinwärts, die andere nach rechts zum Leuchtturm. Maggie stieg ab und schob ihr Rad um den Eisenpfosten herum, dann fuhr sie weiter.
    Den nach rechts führenden Weg wählend, sah Maggie den weißen Turm hoch über sich aufragen. Der Boden war hier über und über mit eingetrockneten Reifenspuren bedeckt, aber es war kein Fahrzeug zu sehen. Das war ihr nur recht. Obwohl sie Caleb und Mr. Jenkins kannte, lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie daran dachte, was ihr Vater ihr immer wieder eingeschärft hatte: »Halte dich von Männern in Lieferwagen fern, Maggie. Fremden in
gleich was für einem
Fahrzeug, nebenbei bemerkt. Falls jemand versuchen sollte, dich ins Auto zu zerren, schrei, so laut du kannst, und lauf weg.«
    Als Strafverteidiger wusste ihr Vater natürlich, wovon er redete.
    Aber … die Jenkins’ waren Freunde, und sie befand sich praktisch auf heimischem Boden. Schließlich konnte sie von hier aus ihr eigenes Haus sehen, gleich gegenüber dem offenen Feld, auf der anderen Seite der flachen kleinen Bucht. Sie drehte sich um und war beruhigt, als sie ihr eigenes Schlafzimmerfenster in dem großen weißen Haus entdeckte, nur eine halbe Meile entfernt. Ihr konnte nichts Schlimmes passieren – vor der eigenen Haustür!
    Als sie zum Leuchtturm emporsah, stellte sie fest, wie wuchtig er wirkte. Weiße Backsteinwände, die dem stärksten Sturm trotzten! Maggie zählte die Fenster: sechs senkrechte und zwölf rund um die Spitze. Vielleicht hauste Rapunzel dort oben. Die ihr goldenes Haar herablassen konnte …
    Bei der Vorstellung schauderte Maggie. Sie zitterte am ganzen Körper, als ob der Wind plötzlich kälter geworden wäre oder als würde sie eine Erkältung, eine Grippe bekommen. Rapunzel war in einem Turm eingesperrt, außerstande zu fliehen.
    Maggie dachte an das Mädchen auf dem schrecklichen Foto. An das schneeweiße Gesicht, die starren Augen … So viele Mädchen, schwer verletzt von dem Mandanten ihres Vaters, dem Tod in den Wellenbrechern ausgesetzt. Wie konnte jemand einem anderen Menschen etwas so Schreckliches antun? Das überstieg Maggies Begriffsvermögen. Sie fand, dass sich alle Menschen gegenseitig helfen sollten.
    Auch Fremde – wie Kate. Sie war bei ihnen aufgetaucht, als ihre Hilfe am meisten gebraucht wurde; hatte sie unter ihre Fittiche genommen, hatte Brainer gebadet. Und später hatte sie ihr zum besten Halloween-Kostüm in der ganzen Schule verholfen.
    Vor Kälte zitternd, beschloss Maggie, dass sie genug Gräser gepflückt hatte. Sie machte kehrt, und als sie zu ihrem Fahrrad zurückging, entdeckte sie Hundespuren im Schlamm. Sie war erleichtert; vielleicht war Brainer hier draußen herumgestreunt. Oder Bonnie. Spuren von Menschen waren auch zu sehen. Fußabdrücke, der Größe nach zu urteilen vielleicht von ihrem Vater oder einem anderen Mann, und kleinere … wie Kates! Wäre das nicht wunderbar, wenn Kate in ebendiesem Augenblick hier wäre, einen Spaziergang mit Bonnie und ihrem Vater machte?
    Maggie schauderte abermals, durch und durch, aber es hatte nichts mit Kate oder ihrem Vater zu tun. Dieser Ort war ihr unheimlich, flößte ihr Angst ein, und der Instinkt sagte ihr, dass sie ihn schleunigst verlassen sollte,
sofort
.
    Sie drehte ihr Rad herum und warf einen letzten Blick auf die Spuren, als sie etwas im Schlamm aufblitzen sah. Steine und zerbrochene Venus- und Miesmuschelschalen waren in die Erde gedrückt worden, und dazwischen funkelte ein winziges goldenes Schmuckstück.
    Maggie ging in die Hocke und wischte es mit den Fingern ab. Es war ein Talisman in Form eines kleines Flugzeugs – oben mit einer Öse, als hätte er an einer

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