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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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haben«, sagte er mit rauer Stimme und geröteten Augen. »Das ist ihre Geheimschublade. Zu Hause hat sie auch eine, dort hebt sie alles auf, was ihr wichtig ist. Den weißen Schal ausgenommen. Den nimmt sie nie ab.«
    »Freut mich, wenn er ihr gefällt.« Kate erwiderte Teddys Blick, spürte die alles überwältigende Macht der Liebe, die er für seine Schwester empfand.
    »Und wie …«
    »Alles in Ordnung, Teddy?«, fragte sie leise; sie hätte ihn gerne in die Arme genommen, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass es im Augenblick besser war, darauf zu verzichten.
    Er zuckte die Achseln, seine Schultern hoben und senkten sich, als ob er lautlos weinte. Die Tränen unterdrückend, sah er Kate unverwandt in die Augen, schloss seinen Vater aus. »Nichts ist in Ordnung, bis ich weiß, wo Maggie steckt.«
    »Ich mache mich auf die Suche«, sagte John.
    »Ich auch. Ich komme mit«, sagte Teddy.
    »Es wäre mir lieber, wenn du hier die Stellung hältst«, entgegnete John, die Hände auf Teddys Schultern. »Einverstanden, Teddy? Du rufst mich sofort an, wenn deine Schwester auftaucht, bevor ich sie gefunden habe.«
    »Wo könnte sie nur sein?« Teddy runzelte die Stirn. »Wo willst du sie suchen?«
    »In der Bücherei. Oder in unserem Haus – auch wenn ich ihr verboten habe, alleine dorthin zu gehen …«
    Teddy berührte Kates Brief. »Oder im East Wind. Maggie weiß, dass Kate beim letzten Mal dort gewohnt hat. Möglicherweise ist sie hingefahren – um sie zu besuchen.«
    »Gute Idee. Dort fange ich an.« John hob den Blick, sah Kate an. »Bleibst du bei Teddy?«
    Kate nickte. Abermals ihrem Instinkt folgend, legte sie nun den Arm um Teddys Schultern – wie eine ältere Schwester, ein Kindermädchen oder eine Mutter – und drückte ihn an sich. Er war groß und stark, als sei er seit ihrer letzten Begegnung gewachsen, aber er lehnte sich an sie wie ein kleiner Junge.
    »Nichts lieber als das«, erwiderte sie.
     
    Der weiße Schal wehte hinter ihr her, als Maggie von Gramps’ Haus zur Beach Road fuhr. Am späten Nachmittag, nach der Schule, dunkelte es bereits, und das schwindende Licht des Tages wirkte bleiern, matt und hart. Sturmwolken waren heraufgezogen, mit glühenden, orangefarbenen Streifen. Sie trat kräftiger in die Pedalen, bog am East Wind Inn von der Hauptstraße ab, sauste durch die Apfelplantage, über den kleinen Bach, der an den Garten ihres Elternhauses und das Naturschutzgebiet grenzte, und den Schotterweg entlang.
    Immer wieder hielt sie an, um getrocknete Blumen und Gräser zu pflücken – ihr Fahrradkorb quoll schon über. Die Sturmwolken verfinsterten sich, und der Wind nahm zu; unwillkürlich schweifte Maggies Blick zum Leuchtturm hinüber. Nur noch einen Steinwurf entfernt, zeichnete sich seine weiße Silhouette vor dem dunklen Himmel ab.
    Hier wuchs das beste Besengras: auf der höchsten Stelle der Klippe, wo es von Sonne, Wind und Gischt ausgebleicht wurde. Kates Schilderung vom Chincoteague hatte den Eindruck geweckt, als sei der Anblick genauso malerisch und die Luft so salzig wie in Silver Bay, und das sollte in Maggies Strauß zum Ausdruck kommen.
    Maggies Herz war voller Sehnsucht, als sie den holperigen Weg entlangfuhr und den nahenden Sturm spürte. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie bisweilen befürchtet, ihr Herz sei empfindungslos geworden – hart und verschrumpelt wie eine Walnuss. Ihre Schultern waren nach vorne gebeugt, als würden sie nach und nach zusammenwachsen und einen Schutzpanzer um sie herum bilden. Hatten nur Mädchen solche Gefühle, oder erging es Teddy genauso?
    Während sie den Schotterweg entlangfuhr, dachte Maggie an ihren Vater. Der kalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen, und ihre Nase lief. Sie stellte sich ihren Vater am Ruder eines Schiffes vor, auf einer langen Reise über das endlose, windgepeitschte Meer, zwei mutterlose Kinder an seiner Seite.
    Je mehr sie das Bild ihres Vaters heraufbeschwor, desto nasser wurde ihr Gesicht. Er gab sich große Mühe. Er versuchte, sie zu beschützen. Als sie daran dachte, wie er sie in den Armen gewiegt hatte, an dem Tag, als ihr Blick auf das grauenvolle Foto gefallen war, wurde sie derart von Gefühlen übermannt, dass sie am Wegrand anhalten musste, um Atem zu schöpfen.
    Er hatte ihr mit den Händen über die Haare gestrichen und ihr ins Ohr geflüstert: »Du bist mein kleines Mädchen, Maggie. Ich werde immer auf dich aufpassen …«
    Maggie umklammerte die Griffe der Lenkstange, als könnten sie

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