Die geheime Stunde
angezogen – genau wie Kate –, weil er ursprünglich, malerisch, majestätisch wirkte: Die Klippe am Ende der Landzunge ragte an die dreißig Meter über dem Meer auf, und der Leuchtturm war mindestens so hoch wie ein siebenstöckiges Haus.
Mit dem Talisman in der Hand stieg Kate über die Kette. Sie ging den Weg entlang, den Kopf gebeugt gegen den Wind. Ihre Ohren schmerzten in der Kälte. Die Nacht war stockfinster, bis auf das Leuchtfeuer, das in regelmäßigen Abständen aufflammte. Sturmwolken jagten über den Himmel, enthüllten freundlicherweise den Mond, groß und voll. Kate fand ohne Schwierigkeiten den Weg.
Ihr Herz war voll. Es gab kein Zurück mehr. Sie hatte das Gefühl, als sei die Atmosphäre elektrisch aufgeladen – sie spürte die Anwesenheit ihrer Schwester so deutlich, als würden sie sich an den Händen halten.
Der Abend hatte mit Johns Kuss begonnen, mit dem kleinen goldenen Talisman, Maggies Geschenk an sie, und dem wachsenden Gefühl, dass sie ihren Platz auf dieser Welt – und eine Familie – gefunden hatte, die sie liebte. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Sie konnte Willa nie mehr verlieren; ihre Schwester würde für immer bei ihr sein.
Sie ging einmal um den Leuchtturm herum. Der weiße Turm schimmerte im Schein des Mondes. Glas knirschte unter ihren Füßen; sie blickte nach oben, um zu sehen, ob eine Fensterscheibe zerbrochen war. Die Wellen, die vom offenen Atlantik heranrollten, brandeten gegen die Felsen unterhalb der Klippe, versprühten ihre Gischt zum Himmel. Ein Stück weiter die Küste hinunter befanden sich die Wellenbrecher, die steinigen Gräber der Mädchen, die den Tod gefunden hatten.
»Ich liebe dich, Willa!«, schrie Kate über das Meer hinaus, Tränen in den Augen.
Hatte der Sturm nachgelassen? Das Tosen kam ihr nicht mehr so grimmig vor; der Wind pfiff leise in ihre Ohren, füllte sie mit Musik und Flüstern, mit der raunenden Stimme ihrer Schwester.
Ihre Hand schloss sich um dem goldenen Talisman. Sie beschloss zu warten: auf eine perfekte, schaumgekrönte Welle, bis der Kamm messerscharf war und kurz davor zu brechen – erhellt vom Lichtstrahl des Leuchtturms. Dann würde sie tief Luft holen und sich mit Willa verbunden fühlen. Und irgendetwas würde ihr sagen – es musste einfach geschehen –, wo sie als Nächstes suchen sollte.
Sie beobachtete sorgfältig die Brandung. Ihre Augen brannten vom Wind und von den Tränen, aber sie konzentrierte ihren Blick und all ihre Empfindungen: Liebe, Kummer, das Bedürfnis, ihre Schwester zu finden, endlich zu erfahren, wo sie war.
Da kam sie; die dritte Welle, die sich aufzutürmen begann. Das Leuchtfeuer blinkte, erhellte sie.
»Wo ist meine Schwester?«, schrie Kate.
Der Wind heulte, als besäße er eine menschliche Stimme. »Katy«, rief er ihr zu, rau und aus weiter Ferne. Sie erstarrte, spitzte die Ohren.
Der Wind verebbte; die dritte Welle nahte, krachte gegen die Felsen. Sie erinnerte sich an eine Begebenheit vor zwölf Jahren, als sie noch zu Hause war und Willa sich auf einen Baum unten am Meer geflüchtet hatte. King, das angriffslustigste Tier der Mustangherde, hatte sie verfolgt, so dass sie sich auf der kleinen verkrüppelten Kiefer in Sicherheit gebracht hatte. Sie hatte stundenlang dort oben ausgeharrt, ganze zehn Jahre alt, und nach ihrer Schwester gerufen. Ihre Stimme hatte genauso geklungen, wie eine Botschaft vom Wind.
»Katy!«
Kate drehte sich langsam um, wandte dem Meer den Rücken zu. Ein Schritt landeinwärts, weg vom Rand der Klippe. Ein weiterer Schritt in Richtung Leuchtturm. Dann ein dritter, vierter Schritt, und wieder glaubte sie ihren Namen zu hören, ein unterdrücktes Schluchzen im Tosen der Brandung. War das ein Hirngespinst? Oder verfolgten sie die alten Erinnerungen, die Liebe zu ihrer Schwester? War ihr Wunsch auf dem Höhepunkt der Welle in Erfüllung gegangen – die Verbindung zu Willa endlich hergestellt?
Kate rannte zur Tür des Leuchtturms.
Sie blickte an dem weißen Turm empor, der hoch über ihrem Kopf aufragte. Sie dachte an die kleinen Prinzen, die im Tower zu London eingekerkert worden waren. An die Märchen von Hexen und bösen Zauberern, die Mädchen einsperrten und Prinzessinnen gefangen hielten, bis die letzte Rose verwelkte.
»Willa?«, rief sie atemlos. Die Wände des Leuchtturms bestanden aus dicken, weißen Steinblöcken. Nach menschlichem Ermessen konnte kein Laut nach außen dringen. Aber vielleicht war er von weiter oben gekommen –
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