Die geheime Stunde
Beifahrersitz. »Er hat heute regelrecht getobt – war entrüstet über seinen ehemaligen Schüler. Weil ihm dieser sein Territorium streitig zu machen versucht …«
»Was glauben Sie, sagt er die Wahrheit? Kennt Greg den Mann wirklich?«
»Wollen Sie wissen, ob er unter Halluzinationen leidet? Mit Sicherheit. Aber heute hatte ich das Gefühl, dass seine Geschichte in diesem bestimmten Fall ein Körnchen Wahrheit enthalten könnte.«
»Warum?«
»Weil Gregs Stolz seine Achillesferse ist, wie Sie wissen. Er genießt seinen Status … seine Intelligenz und seinen Bekanntheitsgrad. Selbst die Kommunikation mit diesem Mann sei hochgradig verschlüsselt, sagt er, ein ausgeklügelter Geheimkode, für Normalsterbliche ein Buch mit sieben Siegeln.«
John konnte sich den MENSA -Kode vorstellen, den Greg sich ausgedacht hatte, nur für einen brillanten Denker wie ihn verständlich.
»Was bringt Sie auf die Idee, an der Geschichte könnte etwas dran sein?«, hakte John nach.
»Greg kann es nicht ertragen, das Rampenlicht mit jemandem zu teilen. Und bei der Geschichte, die er mir heute erzählte, steht der Nachahmungstäter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«
»Greg beobachtete einmal ein junges Mädchen. In Fairhaven, Massachusetts. Sie war sehr jung, und er fühlte sich derart provoziert, dass er durchs Fenster steigen und sie aus ihrem eigenen Bett entführen wollte …«
»Aber es gelang ihm nicht, ins Haus einzusteigen«, unterbrach John ihn ungeduldig. »Ich kenne die Geschichte.«
Der Doktor nickte. »Den Teil hat er Ihnen offenbar erzählt. Aber vielleicht hat er Ihnen nicht gesagt, dass er dem Mann, mit dem er korrespondierte, die Adresse verriet – in dem zuvor erwähnten Kode. Und eines Abends, vor sieben Monaten, fuhr sein Schützling auf besagten Parkplatz in Fairhaven, um einen zweiten Anlauf zu wagen. Aber irgendetwas muss wohl dazwischengekommen sein. Im Zimmer des Mädchens brannte kein Licht, oder die Familie war nicht zu Hause …«
»Aber jemand anders war da.« John stockte der Atem.
Dr. Beckwith nickte. »Genau. Eine junge Frau, die in Neuengland Urlaub machte. Sie hatte in New Bedford das Walfängermuseum besichtigt. Sie hatte ihren Hund bei sich. Und wissen Sie, was seltsam ist? Der Mann kannte sowohl den Hund als auch die Frau. Sie war in seiner Heimatstadt abgestiegen – Silver Bay. In einem Gasthof …«
»Willa Harris.« Johns Kopf war mit einem Mal glasklar.
»Greg hat mir ihren Namen nicht genannt.«
»Und der große Unbekannte hat sie umgebracht?«
»Nein«, sagte der Doktor. »Greg behauptet, er habe sie lediglich entführt. Ihr Handschellen angelegt und den Hund irgendwo in Rhode Island ausgesetzt. Dann sei er mit ihr hierher zum Leuchtturm zurückgefahren …«
»Und dann?« John schrie beinahe.
»Was dann geschah, entzieht sich unserer Kenntnis. Außer dass …« Der Doktor verstummte, sein Blick war gequält.
»Was? Jetzt reden Sie schon!«
»Er war einmal mein Patient«, sagte der Doktor beklommen.
[home]
27
K ate fiel in ein tiefes Loch und schlug hart auf, landete flach auf dem Rücken. In der Dunkelheit nach Luft ringend, schluckte sie Wasser und rappelte sich hoch, versuchte, etwas zu erkennen, sich zu orientieren. Allem Anschein nach befand sie sich auf dem Grund eines Brunnens.
Das Wasser reichte bis an ihre Knöchel. In dem pechschwarzen Schacht ertastete sie mit ausgestreckten Armen einen Kreis aus Mauersteinen, die an die Nordwand des Leuchtturms grenzten – so hoch, dass sie den oberen Rand nicht mehr ausmachen konnte.
Bei ihrem Sturz hatte sie sich Rücken und Beine aufgeschürft, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Als sie sich blind vorwärts tastete, stolperte sie über einen Felsen; sie stieg vorsichtig darüber hinweg, ging in einem engen Kreis, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.
Ihr war schwindelig vom Aufprall. Die Finger nach oben streckend, versuchte sie, die senkrechte Steinmauer zu erklimmen. Ungefähr fünfzehn Zentimeter über ihr berührte sie plötzlich Holz. Alt und morsch wie es war, zerbröselte es unter ihren Händen. Als sie weitertastete, merkte sie, dass es sich von den Ausmaßen her um eine Tür handeln könnte. Aber was hatte eine Tür in einem Brunnen zu suchen? Unter Wasser würde sie doch nur verfaulen und zerfallen.
Wenn sie doch nur etwas finden würde, um sich darauf zu stellen … dann käme sie leichter an die Tür heran. Sie bückte sich, tastete im Wasser
Weitere Kostenlose Bücher