Die geheime Stunde
überkam ihn die Erinnerung gerade jetzt? Er schüttelte sie ab, entdeckte Maggies Pausenbrote auf dem Stuhl, in der braunen Tüte, die er gestern Abend eigenhändig gepackt hatte. Sie war nicht zur Schule gegangen, sondern zu Hause geblieben, ganz offensichtlich. Nun, das war kein Beinbruch.
Vielleicht Bauchweh. Maggie war anfällig für Bauchweh, vor allem seit dem Tod ihrer Mutter. Oder es lag an ihrer eingefleischten Sturheit – möglicherweise hatte sie sich geweigert, zur Schule zu gehen, bis sie sich mit eigenen Augen überzeugen konnte, dass ihrem Dad nichts weiter fehlte.
»Maggie!«, rief er und stellte seinen Aktenkoffer auf den Boden.
Keine Antwort. Die Uhr in der Diele tickte laut. »Ich bin wieder da, mein Schatz. Es geht mir gut.«
Das
wird sie auf Trab bringen, dachte er. Mein braves, fürsorgliches, leicht zu beunruhigendes kleines Mädchen: Sie brannte mit Sicherheit darauf zu erfahren, dass ihr Vater gesund und munter war.
Aber sie kam nicht angelaufen. Sie antwortete nicht einmal.
»Hallo Maggie! Brainer – wo ist Maggie?«
Mit schweißnassen Händen wanderte John durch das Erdgeschoss. Langsam und mühsam beherrscht, sah er im Wohnzimmer, im Esszimmer, in der Küche und, schneller nun, im Laufschritt – in seinem Arbeitszimmer und auf der Sonnenveranda nach.
Wo steckt Brainer? Der Hund ist ebenfalls weg,
dachte er.
»Mags!«
Plötzlich hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Wie lautete der Name des Kindermädchens, der Frau, die an seiner Tür aufgetaucht war? Und was für ein
Idiot
würde seine Kinder mit einer Wildfremden alleine lassen – zumal einer, der wie John wusste, wozu Menschen fähig waren? Wo war Mrs. Wilcox? Hatte sie nicht ihre Hilfe angeboten? Aufstöhnend lief er die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend.
»Kate?«, schrie er. So hieß sie – Kate Harris.
Während er durch die Schlafzimmer im ersten Stock lief, merkte er, dass er bereits eine brauchbare Personenbeschreibung der Frau zu formulieren begann. Ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß, schlank, glattes braunes Haar, ungewöhnliche Augen in der Farbe von Flusssteinen, grauer Mantel, schwarze Schuhe – das sollte der Polizei bei der Fahndung helfen. Ihm gefror das Blut in den Adern, als ihm bewusst wurde, was er da tat. Aus dem Anwalt wurde, in ebendiesem Augenblick, ein unmittelbar Betroffener, der Vater eines vermissten Mädchens …
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3
J ohn spürte plötzlich am eigenen Leib, wie kalt und unerbittlich die Wahrheit sein konnte. Während er sein eigenes Haus durchsuchte, wuchs das Gefühl. Gehörte er jetzt zu ihnen? Zu den Eltern, die geliebt wurden und eines schönen Tages bei der Heimkunft feststellen mussten, dass der Albtraum begonnen hatte, Eltern, die er sonst so gut aus dem Zeugenstand und den Kreuzverhören kannte – die den Verlust eines Kindes beklagten? Befand er sich bereits auf der Nachher-Seite des Lebens, das ein Davor und ein Danach besaß? Das Leben vor und nach Maggies Verschwinden?
» MAGGIE !«, brüllte er.
Das Haus antwortete mit Schweigen.
John dachte an die Moores, die Nastoses, die McDiarmids, die Litskys … sie hatten das Gleiche durchgemacht; er hatte ihre Aussagen gehört: »Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war sie nicht da …«, oder: »Wir riefen sie Freitagabend an, doch sie ging nicht ans Telefon …«, oder: »Wir haben gesucht und gesucht, aber wir konnten sie nirgends finden.« Die Mädchen hatten die Ungeheuer aus irgendeinem Grund hereingelassen …
»Maggie! Kate!«, brüllte er abermals.
Kate Harris! Ein unauffälliger Name, eine nette und völlig normal aussehende Frau. John verspürte einen Stich – das war die Standardbeschreibung eines Serienmörders. »Er machte einen
netten, völlig normalen Eindruck …«
Der junge Mann von nebenan … Aber Frauen mordeten auch, dachte er. Frauen blieben nicht von den inneren Trieben verschont, die Menschen veranlassten, anderen Gewalt anzutun.
Wohin hatte Kate Harris sein kleines Mädchen gebracht? Seine starrköpfige, heiß geliebte Tochter, die Fußballtrikots trug und zu baden vergaß … Maggie. Margaret Rose O’Rourke. Maggie Rose. Mags, Magpie, Maguire, Maggie-Maus, Maggie-Monster.
»Maggie!«
Rauf auf den Dachboden. Der Geruch nach Staub, Mottenkugeln und Verwesung, der von den Wänden ausstrahlte – die Fledermäuse waren wieder da, dachte John. Vor drei Jahren hatten sich Fledermäuse bei ihnen eingenistet, und Theresa musste den Kammerjäger holen. Bei dem
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