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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Wohltat.
    Die Stereoanlage war noch an; eine Melodie von Suzanne Vega erklang, leise und traurig. Kate erinnerte sich, wie sehr ihre Schwester Musik geliebt hatte. Willa pflegte sie in ihrem Zimmer zu hören, während die weißen Vorhänge in der salzigen Meeresbrise wehten. »Sie singt von Verlusten«, hatte Willa ihrer älteren Schwester erklärt, auf der Kante ihres Doppelbetts sitzend. »Sie weiß, wie das ist, genau wie wir beide … Sie ist eine von uns. Gott sei Dank, dass ich dich habe, Katy.«
    »Gott sei Dank, dass ich dich habe«, hatte Kate geflüstert.
    Als sie nun in John O’Rourkes Auto saß, klammerte sie sich an den Sitz und konzentrierte sich darauf, nicht zu weinen. Ihre Liebe zum Meer hatte sie bewogen, Meeresbiologin zu werden, aber sie hatte sich auf unbestimmte Zeit von ihrer Tätigkeit in Washington beurlauben lassen. Wie konnte sie das zerbrechliche Gleichgewicht von Ökosystemen und Gezeitenzonen im Auge behalten, wenn sie nur noch an Willa dachte?
    »Dieses Thema ist tabu«, sagte John leise, den Blick nach vorne gerichtet.
    Kate traute ihrer Stimme noch nicht. Sie wünschte, die Musik möge verstummen, damit die Erinnerungen verblassten und ihre aufgewühlten Gefühle zur Ruhe kämen. Die traurige Melodie riss die alten Wunden der letzten Monate wieder auf, und sie spürte den Schmerz im ganzen Körper.
    »Greg Merrill ist mein Mandant; es ist mit den ethischen Grundsätzen eines Anwalts unvereinbar, über seinen Fall zu reden, weder mit Ihnen noch mit gleich wem.«
    Kate holte tief Luft. Die letzten Noten endeten, die letzten Gitarrenakkorde verklangen. Sie schloss die Augen, zwang sich, beim Sprechen Ruhe zu bewahren. »Ich würde niemals von Ihnen verlangen, einen Vertrauensbruch zu begehen.« Sie zögerte, suchte nach den richtigen Worten. »Sie müssten nicht über ihn reden – sondern nur meine Fragen anhören und mir helfen, ihn auszuloten, mir ein Bild von ihm zu machen …«
    »Gespräche mit meinem Mandanten unterliegen der Schweigepflicht. Und Schweigepflicht heißt: ganz oder gar nicht. Ich kann mir nicht das eine oder andere herauspicken und entscheiden, wann sie zutrifft und wann nicht.«
    »Ich verstehe.«
    »Warum kommen Sie überhaupt zu mir? Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei? Oder an die Staatsanwaltschaft? Wenn ein begründeter Verdacht besteht, können die Ihnen viel eher weiterhelfen.«
    »Habe ich alles schon versucht.«
    »Und die konnten Ihnen nicht helfen?«
    Sie schüttelte den Kopf. Der Strahl eines Leuchtturms schweifte über den Himmel. Sie wusste anhand der Landkarte, dass es der Silver Bay Leuchtturm war. Der Turm stand auf einer Landzunge mit Blick auf einen langen Wellenbrecher, errichtet aus den grauen Quadersteinen dieser Gegend, eine Treppe mit Absätzen in der Mitte. Der Wellenbrecher schützte den Hafen von Silver Bay.
    »Den hat er nie benutzt, oder?«, fragte sie, während sie zusah, wie der weiße Strahl den Himmel durchpflügte.
    »Wen? Wovon reden Sie?«
    »Von Merrill. Er hat nie eine Leiche im Silver-Bay-Wellenbrecher versteckt – obwohl das nahe liegend wäre. Und geradezu perfekt – er ist lang, vom Ufer kaum sichtbar, mit vielen Spalten zwischen den Quadersteinen … bei Ebbe problemlos zu erreichen.«
    »Das Gespräch ist beendet.« John öffnete die Tür auf seiner Seite. Die Hunde bellten enttäuscht, als sie merkten, dass die Spazierfahrt kümmerlich auszufallen drohte.
    »Bitte.« Kate schluckte. Sie packte ihn am Handgelenk, hielt ihn fest. Langsam drehte er den Kopf, um sie anzusehen; seine Augen waren hart, er war auf der Hut. Sie hatte es verdorben, weil sie das Thema Merrill und den Wellenbrecher angeschnitten hatte.
Halt ihn heraus
, ermahnte sich Kate.
Sprich nur über Willa
.
    John befand sich mit einem Bein im Auto, mit dem anderen draußen. Der Lichtstrahl des Leuchtturms glitt wieder über sie hinweg; sie sah, wie sein Blick ihm folgte und dann auf der Frontseite des East Wind Inn verweilte. Hinter dem Fenster stand jemand. Die Gardine bewegte sich kaum merklich, und ein Schatten zeichnete sich gegen das Licht ab.
    »Bitte. Geben Sie mir fünf Minuten Zeit«, bat Kate.
    John antwortete nicht, aber er zog sein Bein wieder in den Wagen und schlug die Autotür zu. Den Blick immer noch auf das Fenster des Gasthofs gerichtet, legte er den Rückwärtsgang ein, wendete und fuhr die lange Zufahrt hinab. Aufgeregt und glücklich rannten die Hunde auf der Rückbank hin und her, die Nasen ans Fenster gepresst. Als Kate

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