Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
über ihre Schulter blickte, sah sie, wie die Gardine zurückgezogen wurde und Felicitys Gesicht aus dem Fenster spähte.
    »Sie beobachtet jede Bewegung«, sagte Kate. »Danke, dass Sie weggefahren sind. Ich weiß die Privatsphäre zu schätzen.«
    »Sagen Sie einfach, was Sie auf dem Herzen haben. Sollten Sie jedoch noch ein einziges Mal die Sprache auf meinen Mandanten bringen, fahre ich Sie auf der Stelle zurück!«
    »Keine Angst. Ich will nicht, dass Sie Ihren Ehrenkodex verletzen. Ich werde Sie nichts fragen, was Merrill …« Sie brach ab, biss sich auf die Lippe. »Ich werde ihn nicht mehr erwähnen. Nur meine Schwester …«
    »Teddy hat mir gesagt, dass Sie ihm von ihr erzählt haben.«
    Kate lächelte, als sie an Teddy O’Rourke dachte. »Ich habe in Teddy etwas von mir selbst entdeckt. Er liebt seine kleine Schwester.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Ich habe – ich
liebe
meine auch«, verbesserte sie sich. »Willa ist zwölf Jahre jünger als ich. Als meine Eltern sie nach der Geburt mit nach Hause brachten, dachte ich, sie sei ein Geschenk, ganz allein für mich. Wie eine lebendige, atmende Babypuppe … ich hätte sie am liebsten nie wieder hergegeben. Ich weinte immer, wenn ich zur Schule ging und sie den ganzen Tag zu Hause lassen musste.«
    »Genau wie Teddy.«
    Kate blickte ihn verstohlen an und sah, dass er nickte. Ermutigt fuhr sie fort. »Meine Mutter sagte oft, sie habe zwei Familien gehabt. Meinen älteren Bruder und mich … und dann Willa. Willa war ihr Nesthäkchen, ein ›unverhoffter Schatz‹. Meine Mutter war fünfundvierzig; sie hatte nicht damit gerechnet, noch ein Kind zu bekommen. Und dann kam Willa zur Welt.«
    »Sie liebten Ihre Schwester also«, sagte John brüsk – eine unausgesprochene Aufforderung, sich mit ihrer Geschichte zu beeilen?
    »Ja. Als meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, erhielt ich das Sorgerecht. Willa sagte immer, ich sei eine Art Mutterersatz. Damals war ich gerade von Chincoteague nach Washington D. C. gezogen – um dort zu studieren und später zu arbeiten. Willa blieb bei mir … wir verwendeten das Geld von der Lebensversicherung, um sie auf eine Privatschule in Georgetown zu schicken. An den Wochenenden fuhren wir nach Hause, nach Chincoteague.«
    »Was war mit Ihrem älteren Bruder?«
    »Matt. Nun, er … sagen wir, er hat sich nicht gerade darum geschlagen, sich um eine Zehnjährige zu kümmern. Das ist schon in Ordnung so … Willa und ich haben es ihm nie verübelt. Er ist Austernfischer, ein Einzelgänger, frei wie der Wind. Er ist mit Chincoteague verwachsen und nie über Pocomoke hinausgekommen, aber er war – wäre immer für uns da gewesen, falls wir ihn gebraucht hätten.«
    »Was ist passiert, Kate?«
    Sein Ton war scharf, drängend. Er würde sie ausreden lassen, zuhören, ihr sagen, dass er ihr nicht helfen könne, und sie zum East Wind zurückfahren. Kate wappnete sich innerlich; sie würde ihr Anliegen vortragen und ihr Bestes tun, um seine Unterstützung zu gewinnen – Schweigepflicht hin oder her. Sie wusste noch nicht wie, aber Willas Geschichte war zu wichtig, um ignoriert zu werden – selbst für einen hartgesottenen Anwalt wie John O’Rourke.
    »Vor sechs Monaten fuhr sie nach Neuengland …«
    »Und?« Er wartete.
    »Und seither ist sie spurlos verschwunden.«
    John hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Als Kate nicht gleich weitersprach, schüttelte er den Kopf. »Kein Mensch verschwindet ›spurlos‹. Das gibt es nicht.«
    »Willa schon.« Sie fuhren nun durch die kleine Stadt, vorbei an dem weißen Kirchturm, der bei Dunkelheit angestrahlt wurde. Der Strahl des Leuchtturms schien ihnen zu folgen, als sie die Hauptstraße entlangbrausten. Sterne funkelten am nachtschwarzen Firmament. Alles schien hell erleuchtet zu sein: Ein gutes Zeichen, dachte Kate.
    »Vielleicht wollte sie nicht gefunden werden«, warf John ein. »Möglich, dass ihr wirklich etwas passiert ist. Aber sie kann nicht spurlos verschwunden sein. Es gibt schließlich Telefonaufzeichnungen, Anrufbeantworter, Sprachverifikation, DNS -Analysen, Kreditkarten und E-Mails, deren Spuren sich verfolgen lassen … es gibt immer irgendeinen Hinweis auf den Verbleib eines Menschen.«
    »Den gab es. Sie haben Recht.«
    »Und wohin führte die Spur?«
    »Genau hierher.« Kates Stimme war leise und heiser.
    »Hierher? Nach Silver Bay?«
    »Ja. Vor einem halben Jahr. Unmittelbar bevor …« Sie sah ihn rasch an, wollte Merrills Namen nicht

Weitere Kostenlose Bücher