Die geheime Stunde
bewahren. Sie hatte sie gespürt, stark und wahrhaftig.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht genau.«
»Irgendetwas müssen Sie sich doch dabei gedacht haben; niemand nimmt einen so weiten Weg auf sich …«
»Ich schon.« Kate verspürte plötzlich einen Anklang von Heimweh – nicht nach den Alabastergebäuden und Monumenten der Hauptstadt, sondern nach dem Besengras und den Austernbänken, den Dünen und Mustangs von Chincoteague. Willa wäre der Insel, auf der sie sich zu Hause fühlte, niemals freiwillig so lange fern geblieben.
»Dann sagen Sie mir, warum Sie zu mir gekommen sind.«
»Weil ich Sie bitten wollte, ihn etwas zu fragen«, sagte Kate, traute ihrer Stimme kaum.
»Ihn?«
»Ich weiß, dass Sie mir im Augenblick nichts sagen können, aber bitte, John – fragen Sie Ihren Mandanten. Willa passt genau in sein Raster – sie war klein und zierlich, hatte braune Haare, war erst zweiundzwanzig.«
Als sie zu John hinüberspähte, sah sie, dass seine Kiefermuskeln angespannt waren. Er gab Gas. Sie bogen von der Hauptstraße ab, holperten die mit Schlaglöchern übersäte Zufahrt entlang, die zu beiden Seiten von hoch gewachsenen Fichten gesäumt war, bis zu der Lichtung mit der Klippe, auf der das East Wind thronte. Offenbar konnte er es kaum noch erwarten, sie endlich loszuwerden. Sie stellte eine Bedrohung für seinen Ehrenkodex und – wie sie anhand seiner Fragen gemerkt hatte – für sein Seelenheil dar, denn sie rührte an schmerzliche Dinge, die sie aus eigener Erfahrung kannte. Er war durch Untreue zutiefst verletzt worden.
Sie griff in ihre Tasche, zog ein Foto von Willa heraus. Sie hatte schon morgens, als sie in seinem Haus gewesen war, vorgehabt, ihm das Bild dazulassen. Sie wusste nicht, ob er es überhaupt anschauen würde. Mit einem letzten Blick auf das ungetrübte Lächeln ihrer Schwester und ihre strahlenden, grünen Augen reichte Kate mit klopfendem Herzen das Foto über den Sitz.
»Bitte nehmen Sie es. Zeigen Sie es Ihrem Mandanten. Bitte!«
»Nein.« John umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Er hielt vor dem hell beleuchteten Vordereingang des East Wind. Im Gesellschaftszimmer brannte kein Licht, aber Kate entdeckte Felicitys allgegenwärtigen Schatten, der unmittelbar hinter der Gardine aufragte.
»Danke, dass Sie mir zugehört haben«, sagte Kate, an John gewandt. Sie machte keine Anstalten, Willas Foto wieder einzustecken, und obwohl John es nicht entgegennahm, wies er es auch nicht zurück.
»Wie ich bereits sagte, wenden Sie sich an die Polizei. Sie ist Ihre einzige Hoffnung.« Er starrte geradeaus, auf die Straße.
»Nein, John, das sind Sie.«
»Wenn das stimmt, haben Sie schlechte Karten.«
»Wirklich?«
Der Strahl des Leuchtturms bewegte sich weiter, fing sein Gesicht ein. Trotz des Verbandes sah man die Verletzung. Eine Blutspur, inzwischen eingetrocknet, verlief von der Schläfe bis zu den braunen, ergrauenden Koteletten. Kate dachte an das Durcheinander, das sie heute Morgen in seinem Haus miterlebt hatte; wie frustriert sie auch sein mochte, sie musste wider ihren Willen das Pflichtgefühl bewundern, das er gegenüber seinem Mandanten an den Tag legte.
»Hatten Sie jemals das Bedürfnis, allen Regeln und Indizien zum Trotz auf Ihre eigene, innere Stimme zu hören?«, begann sie langsam, an ihr eigenes Büro denkend, das mit wissenschaftlichen Abhandlungen, Berichten über den Salzgehalt von Wasserproben, seismischen Aufzeichnungen und Informationen über Fischfangquoten voll gestopft war.
»Wie bitte?«
Sie schloss die Augen, dachte an den Zorn ihres Bruders und seiner Nachbarn auf der Insel, an die Drohbriefe, die sie erhalten hatte, als ihr Arbeitgeber, die National Academy of Sciences, letztes Jahr die Richtlinien und Quoten für den Austern- und Krabbenfang veröffentlicht hatte. Wenn sie nur in der Lage gewesen wäre, bestimmte Tatbestände zu ignorieren – die zunehmende Verknappung der Bestände, den Raubbau an der Natur –, sie hätte alle glücklich gemacht.
»Ja, das Bedürfnis hatte ich«, gestand John mit einem langsamen, versonnenen Lächeln, als wüsste er genau, wovon sie sprach. »Wohl an die hundert Mal am Tag. Aber das kann ich mir in meinem Beruf nicht erlauben.«
»Ich auch nicht.« Die Wissenschaftlerin in ihr kam zum Vorschein. Doch dann gewann – wie immer – die Schwester die Oberhand. »Ich bitte Sie trotzdem: Zeigen Sie Merrill das Foto.«
John spannte lediglich die Schultern an
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