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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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und schüttelte den Kopf, als hätte ihm gerade jemand unverhofft einen Stich versetzt.
    Da sie ihm keine Gelegenheit geben wollte, zu antworten oder sie zu zwingen, das Bild wieder mitzunehmen, stieg Kate hastig aus dem Wagen. Sie öffnete die hintere Tür, packte Bonnie am Halsband, tätschelte Brainer zum Abschied und eilte die Treppe zum East Wind hinauf.
    Ihr Herz hämmerte. Als sie neben John O’Rourke gesessen hatte, war ihr bewusst geworden, dass er sie wie kein anderer
verstand
. Er kannte die Situation aus eigener Erfahrung. Auch er war von einem Menschen, dem er vertraute, zutiefst verletzt worden.
    Bonnie bellte, und Kate drehte sich um, um ihm zum Abschied zuzuwinken, aber sie bezweifelte, dass John O’Rourke es sah: Seine Rücklichter leuchteten bereits in der gewundenen Fichtenallee auf, während er davonfuhr, als sei er auf der Flucht vor ihr.

[home]
    6
    R ichter Patrick O’Rourke war schon seit zehn Jahren im Ruhestand, trug aber nach wie vor jeden Tag Hemd und Krawatte. Selbst jetzt, als er den Müll hinausbrachte, war er so tadellos gekleidet, als befände er sich auf dem Weg ins Gericht: gestärktes Hemd aus feinem Wollstoff, Yale-Klubkrawatte, Flanellhosen. Jeder Bewohner der Stadt – mit vier Ausnahmen – nannte ihn »Richter« oder »Euer Ehren« –, und nicht nur wegen der eisernen Hand, mit der er den Vorsitz im Gerichtssaal geführt hatte, sondern vermutlich auch wegen der Statue der Justitia, mit der Leila damals den Garten nach seiner Berufung in das Richteramt geschmückt hatte.
    Die Schule war aus, und der Bus hielt in der Parkbucht, setzte Maggie ab. Sie rannte die Zufahrt entlang, ein tropischer Wirbelwind in Laufschuhen. Mit ihren fliegenden Armen und der Büchertasche, die ständig gegen ihren Rücken prallte, erinnerte sie den Richter an ihren Vater im gleichen Alter: zielstrebig und voller Enthusiasmus. Der Richter warf die Plastiktüte in die Mülltonne und breitete die Arme aus, um seine Enkelin zu begrüßen.
    »Na, wie geht es meinem Mädchen?«, fragte er.
    »Gut, Gramps. Was machst du da?«
    »Ich habe gerade Müll rausgetragen.«
    »Warum macht Maeve das nicht?«
    »Nun«, sagte er, auf der Suche nach einer plausiblen Ausrede. »Sie hat einen kleinen Imbiss für dich zubereitet und war gerade dabei, das Geschirr abzuwaschen. Ich kann sie schließlich nicht alles alleine machen lassen.«
    Maggie schüttelte besorgt den Kopf. »Und wir machen ihr noch zusätzlich Arbeit, oder?«
    »Teddy und du?«, schnaubte der Richter. Er sprang häufig ein, wenn Not am Mann war, betreute die Kinder nach der Schule, wenn John wieder einmal zu hart arbeitete und das letzte Kindermädchen gerade gekündigt hatte. Im Moment wohnte die ganze Familie bei ihm – wie schon mehrmals zuvor –, und der Richter freute sich darüber wie ein Schneekönig. »Ihr macht doch überhaupt keine Arbeit!«
    »Wirklich?«, fragte sie, immer noch beunruhigt.
    »Worauf du dich verlassen kannst, Margaret Rose. Du weißt, dass ich stets die Wahrheit sage, wenn es um wichtige Dinge geht. Ach du liebe Zeit, was hast du denn in deiner Büchertasche – Steine?«
    »Nein, Gramps. Bücher«, kicherte sie.
    »Die werden heutzutage wohl extra schwer gemacht.« Er half ihr, den schweren Rucksack abzulegen.
    »Nein, ich muss nur eine Menge Hausaufgaben nachholen. Ich war gestern nicht in der Schule. Wegen dem Stein, der durch die Fensterscheibe geflogen ist und Dad traf …« Sie verstummte mit schuldbewusster Miene, als wäre der Angriff ihr Fehler gewesen.
    »Diese verdammten Rowdys. Kurven herum und machen nichts als Ärger. Aber unsere Polizei ist nicht auf den Kopf gefallen; hoffen wir also, dass sie bald geschnappt werden.«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie haben keine Spuren hinterlassen.«
    Der Richter hatte zu seiner Zeit etliche Drohungen erhalten, aber dass seine heiß geliebte Enkelin nun zur Zielscheibe wurde – das war zu viel. Nur gut, dass die Familie bei ihm Unterschlupf gesucht und sich aus der Gefahrenzone begeben hatte. Er wollte Maggie gerade beschwichtigen, ihr sagen, dass alles gut werden würde und sie sich keine Sorgen um ihren Dad zu machen brauche, doch da rannte sie ihm auch schon voraus ins Haus, geradewegs in die Küche.
    Maeve hatte den Teller mit den Brownies auf den Frühstückstresen gestellt. Maggie holte die Milch. Sie schenkte sich ein Glas ein, dann griff sie zu. Der Richter hoffte, dass sie die schmutzige Schüssel und die Bratpfanne im Spülbecken nicht

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