Die geheime Stunde
sah sie, wie die Lichter angingen, um Punkt sechs – Klick! –, und dachte an John. War diese Zeit am Abend schwierig für ihn gewesen? Die Ungewissheit, ob seine Frau zu Hause war, wie eigentlich zu erwarten, mit der Zubereitung des Essens für die Familie beschäftigt? Oder ausgeflogen … wer weiß, wohin? Sechs Uhr war für Kate immer die schlimmste Zeit gewesen. Weil sie wusste, dass Andrew das Büro verlassen hatte, aber noch nicht zu Hause war …
Kate blinzelte, zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Wohin hatte John Teddy und Maggie gebracht? Sie hätte es gerne gewusst – nicht nur, weil sie nicht aufgegeben hatte, weil sie den Anwalt so lange zu bedrängen gedachte, bis er entweder um Gnade flehte oder sich einverstanden erklärte, Merrill nach Willa zu fragen, sondern auch, weil ihr die Kinder fehlten. Sie hatten an jenem kurzen aber denkwürdigen Morgen, an dem sie zum ersten Mal das Haus der O’Rourkes betreten hatte, einen Platz in ihrem Herzen erobert.
Maggie und Teddy O’Rourke. In einem anderen Leben wäre sie gerne ihr Kindermädchen gewesen. Die Kinder waren ganz nach ihrem Geschmack, bewiesen Loyalität gegenüber ihrem Vater, hatten eine enge Bindung zueinander. Sie erinnerten Kate daran, wie Willa und sie im gleichen Alter gewesen waren; zweifellos hatte auch Teddy seiner Schwester bei der einen oder anderen Buchbeschreibung geholfen.
Die O’Rourkes vermissten ihre Mutter und Kate ihre Schwester. Die Kinder lagen ihr am Herzen. Ungeachtet dessen, ob ihr Vater nun beschloss, ihr zu helfen oder nicht, sie musste sich überzeugen, dass es ihnen gut ging. Dass Menschen spurlos verschwanden – selbst wenn es eine stichhaltige Erklärung dafür gab –, war nicht annehmbar.
Als sie zum East Wind zurückfuhr, wusste sie, dass dieser fünfte Abstecher zum Haus der O’Rourkes nicht ihr letzter sein würde.
Freitagmorgen wachte Teddy in aller Herrgottsfrühe auf. Er hatte einen wichtigen Tag vor sich – das Spiel gegen die Riverdale High. Die Riverdale Cannons, ihre Erzrivalen, trugen den Spitznamen »Kannibalen« – weil sie ihre Gegner gnadenlos niedermetzelten und ihre eigenen Leute restlos fertig machten. Teddys Mannschaft, die Shoreline Junior Varsity, hatte bei der letzten Begegnung in der Verlängerung verloren, und Riverdale hatte geschworen, sie heute abermals von der Platte zu putzen.
Die ganze Familie wohnte derzeit im Haus seines Großvaters; dahinter stand der Gedanke, dass Gramps und Maeve sich um Maggie und ihn kümmern sollten, bis ein neues Kindermädchen gefunden war. Obwohl Maggie Heimweh nach ihrem Zimmer hatte, gefiel es Teddy hier, sogar besser als in seinem Elternhaus: Die Lücke, die seine Mutter hinterlassen hatte, war hier nicht so offensichtlich.
Barfuß durch den Flur tappend, betrat er die Waschküche. Hier liefen die Dinge anders als daheim. Zum einen wurden die Anziehsachen regelmäßig gewaschen. Zum anderen wurde alles gestärkt und gebleicht. Maeve stammte aus Irland, hatte ihren Lebensunterhalt als Waschfrau verdient. Die Hemden des Richters wurden bei ihr so weiß, dass sie beinahe bläulich schimmerten.
Teddys Fußballkluft war noch nie so sauber gewesen. Die weißen Buchstaben und Zahlen sprangen geradezu ins Auge, wie 3-D-Bilder. Aber der Nylonstoff war von der Stärke so steif wie ein Brett: Er musste ihn beinahe knicken, um das Trikot in seiner Sporttasche zu verstauen. Brainers Schwanz peitschte seine Beine, als er Teddy durch den Flur folgte.
Auf dem Herd köchelte irischer Haferbrei vor sich hin. Maeve bereitete sämtliche Mahlzeiten aus frischen Zutaten zu, und sie stand in der avocadogrünen Küche – alle Geräte und Vorrichtungen wirkten abgerundet, altmodisch – und rührte mit einem langstieligen Holzlöffel im Brei, als Teddy eintrat.
»Morgen, Maeve.«
»Morgen, mein lieber Lukas«, erwiderte sie in ihrem weichen Dialekt und küsste ihn lächelnd. Sie war klein, drall und weich, und ihre Umarmung vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit.
Teddy machte sich gar nicht erst die Mühe, sie zu berichtigen, was seinen Namen betraf. Normalerweise wusste sie, wer Maggie und er waren, aber seit einiger Zeit schien sie vergesslich zu werden. Ihr Haar war schlohweiß und so spärlich am Scheitel, dass die rosige Kopfhaut durchschimmerte – ähnlich wie bei Gramps. Sie kamen ihm vor wie ein Paar, ein Ehepaar, das miteinander alt wurde. Da Teddy Leila, seine leibliche Großmutter, nicht mehr kennen gelernt hatte,
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