Die geheime Stunde
Strand ins Meer hineinragte, und Willas Handschrift auf der Rückseite. Willas Liebesaffäre gehörte der Vergangenheit an; sie wollte Frieden mit ihrer Schwester schließen, damit sie beide ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen konnten.
Kate hatte schon seit Jahren gewusst, dass ihre Ehe auf der Kippe stand. Andrew war ein wichtiger Mann, die rechte Hand eines bekannten Senators. Er kannte sich mit den Gepflogenheiten in Washington aus wie kein Zweiter. Seine Tätigkeit brachte es mit sich, dass er häufig Überstunden machte und oft unterwegs war. Kate, mit ihrem eigenen anstrengenden Beruf und Willas Betreuung voll ausgelastet, war in vieler Hinsicht mit Blindheit geschlagen gewesen.
Manchmal hatte sie sich gefragt, warum sie ihn überhaupt geheiratet hatte …
Aber er war ungemein attraktiv und hatte ihr das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein. Das war eine seiner fantastischen Eigenschaften, die Gabe, Menschen für sich einzunehmen: Er wickelte sie um den Finger und hätte es fertig gebracht, einer Frau das eigene Auto zu verkaufen. Er hatte Kate bei einer Cocktailparty auf dem Hill ins Auge gefasst, die zu Ehren des Senators und seiner Gesetzesvorlage zum Schutz der Schalentierfischerei stattfand; Kate war von Andrews Arbeit hinter den Kulissen und seinem unerschütterlichen Engagement für die Umwelt angetan gewesen.
»Wie kommt es, dass Sie sich für den Erhalt der Schalentierbestände in der Chesapeake Bay einsetzen?«, hatte sie gefragt, beeindruckt und ein wenig eingeschüchtert von seinem maßgeschneiderten Anzug und seinen untadeligen Manieren.
»Ich bin ein Junge vom Lande, auch wenn das lange her ist«, hatte er geantwortet und sich zu ihr gebeugt. »Ich bin in Maine geboren und aufgewachsen, daher weiß ich, wie schnell ein bisschen Habgier eine ganze Hummerpopulation auslöschen kann.«
Sie hatte gelächelt und an ihrem Chardonnay genippt. »Bei mir sind es die Krebse – der Gattung Callinectes – und Austernbänke.«
»Betrachten Sie Ihre Arbeit als persönlichen Feldzug?«, sagte Andrew, bemüht, das Stimmengewirr und die Musik zu übertönen.
»Das kann man wohl sagen – ich stamme aus Chincoteague.«
»Im Ernst? Meine Schwestern haben früher
Misty
geliebt. Und Sie lieben die Natur, wie mir scheint. Was hat Sie in die große, böse Stadt verschlagen?«
»Zuerst das College, dann mein Beruf. Ich arbeite für die National Academy of Sciences. Und wie war das bei Ihnen?«
»Ich wollte etwas Gutes bewirken«, sagte er, verdrehte die Augen und tat, als wolle er mit dem Kopf durch die Wand. »So verrückt das auch klingen mag.«
»Ich finde das ganz und gar nicht verrückt.« Sie spürte, wie sie innerlich sprühte, als sie in seine Augen sah.
»Wir müssen den Planeten erhalten – für unsere Kinder.«
»Und unsere kleinen Schwestern«, hatte Kate hinzugefügt.
Durch Andrews einladendes, interessiertes Lächeln ermuntert, hatte sie ihm schließlich alles über Willa erzählt, über den Tod ihrer Eltern, Matts Leben auf dem Wasser und was es für eine Herausforderung war, ein Mädchen im Teenageralter allein großzuziehen. Dass sie die jüngste Anstandsdame war, die Willa zu den Tanzveranstaltungen der Highschool begleitete, dass sie ihr auf dem Parkplatz des Chevy Chase Safeway das Autofahren beigebracht und sie oft auf Reisen mitgenommen hatte.
»Oh, Ihre armen Schultern.« Andrew war einen Schritt näher getreten, hatte Kates Nacken mit seiner Hand berührt, Anteilnahme in den Augen.
»Was ist mit ihnen?«, hatte sie gefragt und bei seiner unerwarteten Berührung und Freundlichkeit das Gefühl gehabt, einen elektrischen Schlag zu erhalten, den sie bis in die Zehenspitzen spürte.
»Auf ihnen lastet das Gewicht der ganzen Welt. Sie müssen noch sehr jung gewesen sein, als Ihnen diese Bürde zufiel – viel zu jung für so viel Verantwortung.«
Zwei Senatoren standen an der Bar. Unter den Gästen befanden sich außerdem ein enger Berater des Präsidenten, ein Anwalt aus dem Justizministerium, drei Angehörige des Repräsentantenhauses, mehrere Nachrichtensprecher und etliche weitere hochkarätige Teilnehmer am Machtpoker. Kate beachtete sie kaum. Sie hatte nur Augen für den netten, verständnisvollen Jungen vom Lande aus Maine, der ihr das Glas aus der Hand nahm, es auf einem Bücherregal abstellte und sie nach draußen geleitete.
Die Nacht in Washington war schwül gewesen, erfüllt vom Duft der Glyzinen und des Flieders. Als sein Wagen vorgefahren
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