Die geheime Stunde
wir sind nicht mehr die Jüngsten … alter Freund«, sagte Sally.
»Die Betonung liegt auf ›alt‹.«
»Lass mich so etwas nie wieder hören!« Sallys Finger lagen leicht auf seinem Arm. »Du bist nur müde und ausgelaugt, kein Wunder nach allem, was du durchgemacht hast. Übrigens, wie geht’s zu Hause?«
Ihre Lippen waren feucht, schmelzend. John spürte, wie sie ihn mit ihren Blicken durchbohrte, und wandte die Augen ab. Sein Atem ging schneller – eine natürliche Reaktion auf Sallys Schönheit, ihre erotische Ausstrahlung … aber sie war Theresas beste Freundin gewesen, ihre Scheidung war noch nicht rechtskräftig, Peter Davis beobachtete sie, und außerdem hatte er sich nie zu ihr hingezogen gefühlt. John sah sie abermals an, wünschte sich, nicht ständig auf der Hut sein zu müssen, sondern ihr klipp und klar sagen zu können, wie die Dinge zu Hause wirklich standen.
»Gut«, erwiderte er.
»Hmmm. Ist das der Grund für die dunklen Ringe unter deinen Augen? Und hat die Mutter von Jillie Wilcox deshalb erzählt, dass der Lieferwagen des Glasers diese Woche schon wieder vor deiner Haustür stand?«
»Ein Ziegelstein, der durch die Fensterscheibe flog. Berufsrisiko.«
»Der Pöbel lechzt offenbar nach Blut. Siehst du, wie dich alle beobachten?«
»Damit kann ich leben, solange sie meine Kinder in Ruhe lassen.«
»Und wer kümmert sich um
dich
, Johnny?« Sally berührte erneut seinen Arm. »Während du dich um die beiden Kinder, das Haus und deine grässlichen Mandanten kümmerst?«
Johns Kiefermuskeln verkrampften sich. So gesehen, auf wenige Worte reduziert, klang es zugegebenermaßen, als sei sein Leben furchtbar. Er zitterte in dem durchdringenden Wind, der vom Meer herüberwehte, konzentrierte sich auf das Spiel seines Sohnes. Teddy wurde als Libero im Angriff und in der Verteidigung eingesetzt, blieb am Mann, preschte nun blitzschnell vor und versuchte, seinem Gegenspieler den Ball abzunehmen.
»Wer ist denn die geheimnisvolle Unbekannte?« Sallys Stimme durchbrach seine Konzentration.
»Keine Ahnung, wen du meinst, Sally.«
»Miss Nullachtfünfzehn, da drüben – die deinen Sohn anfeuert, als wäre sie seine Mutter. Dein Hund scheint sie recht gut zu kennen.«
John folgte der Richtung, in die ihr Zeigefinger wies, und entdeckte Kate Harris. Sie verfolgte mit leuchtenden Augen das Spiel – die Hände wie zum Gebet gefaltet, aber vermutlich nur, um sie zu wärmen –, schien gefangen und hingerissen zu sein. Sie trug die grüne Jacke, die sie schon bei ihrem Spaziergang neulich am Abend angehabt hatte, und als Brainer mit Bonnie umhertollte, ging sie in die Hocke und küsste ihn auf die Nase.
John musste gegen seinen Willen lächeln – die erste Reaktion auf ihren Anblick. Doch die zweite Reaktion kam schnell und unerbittlich, wie ein D-Zug, der durch einen Tunnel raste. Was hatte Kate Harris bei Teddys Spiel zu suchen?
»Entschuldige mich, Sally, ja?«
»Natürlich«, hörte er Sallys Stimme über seine Schulter, während er bereits die Seitenlinie entlangeilte. Brainer balgte sich mit Bonnie, und beide Hunde lösten sich voneinander, um ihn zu umkreisen, als er sich Kate näherte. Der Himmel war stahlgrau, das Laub an den Bäumen leuchtend gelb und orange, und ihre Augen waren voller Wärme und Hoffnung, als sie sich umdrehte und ihm entgegenblickte.
»Brainer erinnert sich an mich«, begrüßte sie ihn.
»Scheint so.« Johns Kiefer waren derart angespannt, dass sie schmerzten.
»Oder an Bonnie. Die zwei haben sich gesucht und gefunden. Ich glaube, sie sind verrückt nacheinander. Ist Ihnen aufgefallen, wie –«
»Was machen Sie hier?«
»Hmmm.« Sie senkte den Blick.
Der D-Zug raste durch seine Brust. Durch seine Adern, seine Blutgefäße. Es schmerzte höllisch, zermalmte Gewebe und Knochen. Diese Frau, zierlich, hübsch, offen – und alles andere als eine »Miss Nullachtfünfzehn«, sondern von einer Schönheit, die Frauen wie Sally und Theresa verborgen blieb –, diese Frau war als Zuschauerin bei Teddys Spiel erschienen und nahm einen Platz ein, der ihr nicht zustand.
»Das ist keine Antwort«, fuhr er sie barsch an. »Sagen Sie mir zum Teufel, was Sie hier zu suchen haben!«
»Ich schaue mir Teddys Spiel an.«
»Wie zum Teu … Was soll die Lügerei? Sie wussten, dass ich komme, und dachten, Sie könnten mich umstimmen. Meinen Sie, ich hätte unsere letzte Begegnung vergessen?«
»Ich wusste nicht, dass Sie kommen«, antwortete sie leise.
»Jetzt
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