Die geheime Stunde
sprechen, nur ein Päckchen für Maggie abgeben.«
»Miss Margaret?«
»Ja – Miss Margaret.«
»Ah, Sie sind ihre Mutter.« Die alte Frau nickte wissend, als sie das Päckchen entgegennahm.
»Nein«, erwiderte Kate verwirrt. »Ihre Mutter ist …«
»Bei den Engeln. Ich weiß.« Die alte Frau drückte Kates Päckchen an ihre Brust.
»So eine
Mutter aber nicht …«
Kate verschlug es die Sprache.
»Kennen Sie die Engel?«, fragte die alte Frau, den Kopf schräg gelegt.
Kate schüttelte benommen den Kopf, wie in Trance.
»Aber ja doch! Natürlich kennen Sie sie. Das sind die achtbaren Mädchen und Frauen, die vor uns gegangen sind, die uns genommen wurden. Unsere Schwestern, liebe Dame. Sind das etwa keine Engel?«
»Willa? Sprechen Sie von meiner Schwester Willa?«
»Richtig.« Die alte Frau hob ihre strahlenden Augen gen Himmel und bekreuzigte sich, bevor ihr Blick zu Kate zurückkehrte. »Sie sind Maria, oder? Heilige Muttergot …«
»Maria? Nein, ich bin …« Kate verstummte, verstand mit einem Mal. Die alte Frau litt an Alzheimer oder einer ähnlichen Erkrankung; sie hielt Kate für die Jungfrau Maria. Brainer kam nun hinter ihren Beinen hervor, und Kate umarmte ihn erleichtert.
»Wirst du über sie wachen, liebe Mutter? Über meine Söhne? Unsere Schwestern? Über alle Mädchen und Frauen, die wir vermissen? Die gelitten haben? Und über all die Bösewichter …« Die flammenden Augen der Frau waren von abgöttischer Liebe erfüllt, und sie umklammerte mit einer warmen Hand Kates Handgelenk, während sie mit der anderen das braune Päckchen an ihre Brust drückte.
Kate wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Sie war Wissenschaftlerin, und religiöse Visionen gingen über ihr Begriffsvermögen hinaus. Aber Willa hatte immer gesagt, dass Kate an einem guten Tag mit Haut und Haaren einfühlsam sein konnte; als sie an die hohe Meinung dachte, die ihre Schwester von ihr hatte, wurde ihr plötzlich klar, dass es nur eine Reaktion gab. Sie sah lächelnd in die Augen der alten Frau, dann beugte sie sich vor und küsste sie auf die Stirn. Der Geruch von Talkumpuder mit Rosenaroma erfüllte die Luft.
»Das verspreche ich«, flüsterte sie mit brennender Kehle und dachte an all die Mädchen und Frauen, die gelitten hatten.
Sie tätschelte Brainer ein letztes Mal, dann lief sie die Stufen hinunter. Der Rosenduft hatte sich auf ihre Hände übertragen, und sie fühlte sich benommen. Sie war keine Kirchgängerin und betete nie, hoffte aber trotzdem, dass sie nicht vom Blitz getroffen wurde, weil sie sich die Rolle der Jungfrau Maria angemaßt hatte. Sie hatte indes das untrügliche Gefühl, soeben gesegnet worden zu sein.
Der alten Frau zuwinkend, fuhr sie rückwärts aus der Einfahrt. Hoffentlich würde sie sich daran erinnern, Maggie das Päckchen zu geben. Während Bonnie auf dem Rücksitz stand und Brainer einen Abschiedsgruß zubellte, bog Kate Harris in die Nebenstraße ein, die zum Highway führte, in östlicher Richtung, nach Newport, Rhode Island, auf der Suche nach ihrer vermissten Schwester.
Der Tag war eine einzige Katastrophe.
Maggie hatte ihren Vater angefleht, sich heute Zeit für sie zu nehmen, aber sie hatte sich vorgestellt, dass sie diese im Einkaufszentrum oder im Kino verbringen würden – oder vielleicht mit einer Fahrradtour durch den Foxtail State Park. Aber nie,
nie im Leben
in der Kanzlei, den ganzen Vormittag lang.
An manchen Tagen machte es Spaß, ihn ins Büro zu begleiten. Maggie mochte die Sekretärinnen und Anwaltsgehilfinnen. Viele waren noch jung und gestatteten ihr, an ihrem Schreibtisch zu sitzen, etwas in ihren Computer einzutippen oder auf den Bögen mit dem Firmenbriefkopf Bilder zu malen.
Aber heute war Samstag, Halloween, und die einzigen Sekretärinnen, die anwesend waren, sahen verdrossen und überarbeitet aus, weil sie Projekte für ihre viel beschäftigten Vorgesetzten fertig stellen mussten. Dads Sekretärin, Damaris, war sonst der netteste Mensch auf der ganzen Welt, aber heute Morgen machte auch
sie
den Eindruck, als würde sie Maggie höchstens noch die Uhrzeit sagen.
»Können wir in den Kopierraum gehen?« Maggie hoffte, Damaris würde ihr erlauben, ihre Hände auf dem großen Farbkopierer abzulichten, wie sie es manchmal tat.
»Jetzt nicht, Schätzchen. Dein Dad verlässt sich darauf, dass ich das hier fertig tippe, damit er früher Schluss machen und mit dir und deinem Bruder einen netten Nachmittag verbringen kann.«
»Mein
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