Die geheime Stunde
alten Backsteingebäude untergebracht, das Stanford White entworfen hatte – einer der besten Architekten des neunzehnten Jahrhunderts, hatte ihr Vater gesagt. Hohe Fenster boten Ausblick auf das Gerichtsgebäude aus Granit mit seinen kannelierten Säulen. Die Arbeit in der Kanzlei wurde still verrichtet, aber Maggie konnte spüren, wie wichtig sie war. Ihr Vater und die anderen assoziierten Mitglieder waren hundertprozentig von ihrer Tätigkeit überzeugt, und das verlieh der Atmosphäre eine Aura der Macht und Rechtschaffenheit.
Maggie spazierte an Schreibtischen aus Walnussholz, überladenen Bücherregalen und Ölgemälden von der Küste Connecticuts vorbei, die aussahen, als gehörten sie in ein Museum – viele von ihnen stellten Leuchttürme aus der Umgebung dar und stammten von den bedeutendsten Landschaftsmalern der letzten zwei Jahrhunderte. Sie ließ ihre Finger über die weichen Ledersessel und die auf Hochglanz polierten Konferenztische gleiten, träumte von ihrem Halloween-Kostüm und suchte nach einem Symbol für den Mut.
Sie wurde fündig.
Ihr Vater war in seinem Büro und arbeitete an der Akte Merrill. Er hatte überall zig Dokumente ausgebreitet: Aufzeichnungen von Gesprächen mit Zeugen, Psychiatern, dem amtlichen Leichenbeschauer. Blau gebundene Niederschriften von Zeugenaussagen stapelten sich auf dem Kirschholztisch. Ein Umschlag aus Packpapier, der von außen völlig harmlos wirkte, war achtlos unter einen Stapel Bücher geschoben. Allein der Anblick bewirkte, dass Maggies Herz zu hämmern begann.
Ihr Vater, der seine Lesebrille aus Schildpatt trug, schrieb wie besessen Passagen aus einem Buch ab. Maggie holte Luft, trat näher.
»Daddy?«
»Hallo, Mags«, sagte er, ohne aufzublicken.
»Was tust du gerade?« Sie starrte den Umschlag an.
»Du weißt doch …«
»Wie lange musst du noch arbeiten?«
»Nicht mehr lange.«
»Du hast gesagt, wir könnten ins Einkaufszentrum gehen.«
»Machen wir. Gib mir nur noch bis zum Mittagessen Zeit.«
»Was wollen wir denn essen?«
»Was du möchtest.«
»Ich hab Hunger.«
»Geduld, Mags. Es dauert nicht mehr lange.«
»Ich hab
riesigen
Hunger, Dad.«
Ihr Vater seufzte, was beinahe wie ein Pfiff klang. Dann nahm er seine Brille ab, rieb sich den Nasenrücken. Als er aufblickte und lächelte, erwiderte Maggie das Lächeln.
»Wie du siehst, stecke ich mitten in einer wichtigen Arbeit.«
»Nur eine kurze Kaffeepause, Dad.«
»Ja?« Er stand auf und reckte sich. Er trug Jeans und ein Hemd aus blauem Sämischleder; es war aus dem Hosenbund gerutscht, und Maggie lachte beim Anblick des nackten Bauches. »In der Cafeteria unten?«
Maggie nickte. »Bringst du mir ein Zimtbrötchen mit? Mit extra dicker Glasur? Und ein Glas Milch?«
Ihr Vater sah sie überrascht an. »Willst du denn nicht mitkommen?«
Maggie zuckte die Achseln. Ihre Wangen brannten, und ihre Nase war kalt – noch bevor sie die Lüge ausgesprochen hatte. Dass es sich um eine harmlose Notlüge handelte, machte die Sache nicht viel besser. »Das würde zu lange dauern«, erklärte sie. »Wenn wir in deinem Büro essen, kannst du dabei weiterarbeiten.«
»Schon kapiert.« Ihr Vater lachte. »Dann kommen wir schneller ins Einkaufszentrum.«
»Du bist ein Genie, Dad.« Maggie grinste.
Sie saß reglos da, auf seinem Drehstuhl am Schreibtisch, bis seine Schritte auf dem Gang verhallten. Sie spitzte die Ohren, hörte das Klicken der Computertastatur in dem kleinen Vorzimmer, wo Damaris schrieb.
Als sie nun den Packpapierumschlag ansah, brach ihr der Schweiß aus. Sie wusste, was er enthielt; Teddy hatte einen Blick hineingeworfen und es ihr erzählt. Ihr Vater nahm ihn manchmal mit nach Hause, aber er hätte ihn nie aus der Hand gegeben. Er behielt ihn sogar auf seinem Schreibtisch im Auge, als enthielte er Gift oder Sprengstoff, Dinge, die seinen Kindern gefährlich werden könnten, wenn er sie unbewacht ließe.
Teddy hatte den Moment abgepasst, als sein Dad ins Bad gegangen war. Er war blitzschnell ins Arbeitszimmer gerannt und hatte den Umschlag geöffnet, um einen Blick hineinzuwerfen … Was er darin gesehen hatte, war offenbar so schrecklich, dass er sich geweigert hatte, ihr auch nur die kleinste Silbe zu verraten. Wie sehr sie auch bettelte oder schmeichelte, er rückte nicht mit der Sprache heraus.
»Komm schon, Teddy. Was ist da drin?«
»Frag mich nicht, Maggie.«
»Wenn du es mir nicht sagst, schaue ich selber nach.«
»Bitte, Maggie – tu’s nicht. Ich kenne
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