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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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dich. Du wirst nie wieder ruhig schlafen.«
    »Sind die Fotos wirklich so schlimm?«
    »Noch schlimmer.«
    »Grauenvoll?«
    »Ja, Mags. Grauenvoll.«
    »Nur noch eins – eine kleine Sache, damit ich nicht selber hineinschauen muss. Nichtwissen ist viel schlimmer als Wissen, weil mich dann meine Fantasie quält.«
    Teddy war bei dem Wort »quält« zusammengezuckt, doch dann hatte er klein beigegeben und Maggie eine Sache erzählt, die ihr noch zwei Wochen später den Schlaf raubte.
    »Sie sind zerschnitten … in Fetzen.« Er verstummte.
    »In Fetzen?« Sie hatte krampfhaft überlegt, warum so ein Wort auf so grässliche Weise benutzt wurde. »Was soll das heißen?«
    »Das kann ich dir nicht sagen, Maggie.« Das Gesicht ihres Bruders war kreidebleich gewesen, vor Entsetzen und wahrscheinlich auch vor Scham, weil er sich dem Verbot seines Vaters zum Trotz die gerichtsmedizinischen Fotos von Greg Merrills Opfern angeschaut hatte. »Niemals! Ich möchte nicht, dass dir die Bilder fortwährend im Kopf herumspuken. Hast du verstanden, Mags? Frag mich nicht weiter … und schau sie dir ja nicht an!«
    »Mach ich nicht«, hatte sie geflüstert, besorgt, weil ihr Bruder so aufgewühlt aussah.
    Nun stemmte sie sich aus dem Bürostuhl ihres Vaters hoch, entschlossen, das Versprechen zu brechen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Sie war ein braves Mädchen, sehr umsichtig, hatte nie Gefallen daran gefunden, den Regeln oder Wünschen ihres Vaters zuwiderzuhandeln. Aber heute war Halloween, wo alle über die Stränge schlugen, und sie konnte wirklich etwas mehr Mut gebrauchen, wenn sie Amelia Earhart sein wollte …
    Als sie den glatten, cremefarbenen Umschlag berührte, waren ihre Fingerspitzen kühl und ruhig. Wie schlimm konnte es schon werden? Der Umschlag selbst sah völlig harmlos aus, hatte ein mit der Maschine geschriebenes Schild auf der Klappe: GM 23-49. Das bezog sich auf die Beweismittel, die nummeriert waren, und da Maggie ihr ganzes Leben im Dunstkreis von Juristen verbracht hatte, wusste sie, dass dreiundzwanzig Fotos darin sein würden.
    Sie holte tief Luft und schickte sich an, den Umschlag aufzuklappen.
    » MAGGIE !«, gellte die Stimme ihres Vaters in ihrem Ohr, und sie spürte, wie sie beiseite gestoßen wurde, als er ihr den Umschlag aus der Hand riss. Er hatte sie nicht hart angefasst, aber da sie auf einem Fuß gestanden hatte, schwankte sie, verlor das Gleichgewicht und fiel.
    »Oh«, hörte sie sich sagen. »Oh, oh …«
    Ihr Vater versuchte sie zu halten und ließ dabei die Fotos fallen. Unfähig zu entscheiden, was er tun sollte – Maggie auffangen oder die Sicht auf die Fotos zu verdecken – versuchte er beides.
    »Schau nicht hin, mein Schatz. Mach die Augen zu!«, rief er.
    Maggie gehorchte, aber nicht, bevor sie einen kurzen Blick auf eine der Aufnahmen geworfen hatte: eine Frau mit kreideweißem Gesicht und offenen Augen, wie eine Puppe. Maggie wusste instinktiv, dass sie tot war – sonst wäre das Bild nicht so schauerlich gewesen. Umgehend kniff sie die Augen zu, weil sie sicher war, dass sie die anderen Bilder nie, nie im Leben sehen wollte.
    »Teddy hatte Recht«, flüsterte sie und begann zu weinen. »Ich hätte sie nicht anschauen dürfen … Es tut mir Leid, Dad. Es tut mir Leid, dass ich nicht auf dich gehört habe!«
    »Schon gut, mein Schatz …«
    »Oh, Teddy!«, wimmerte Maggie.
     
    John fuhr langsam, hielt die Hand seiner Tochter, die auf dem Beifahrersitz des Volvo saß. Damaris hatte ihr Bestes getan und Maggie in den Ruheraum getragen, ihr einen kühlen Waschlappen auf die Stirn gelegt und ihr eine Tasse Suppe eingeflößt, um sie zu beruhigen, aber John wusste, dass er die Sache selbst in Ordnung bringen musste.
    Maggie war angeschnallt. Immer wieder unterdrückte sie ein Schluchzen. Jeder Laut, den sie von sich gab, machte John schwer zu schaffen, verstärkte seine Schuldgefühle. Sie war schließlich sein Nesthäkchen, sein kleines Mädchen. Sie war in einem Alter, in dem sie Vater und Mutter brauchte, und seit einiger Zeit fehlte ihre beides.
    »Alles in Ordnung, Maggie?«
    »Jaa«, ein Schlucken, »ha«, wieder schlucken.
    »Sicher?«
    Keine Antwort.
    John umklammerte ihre Hand noch fester, als sie an der Küste entlangfuhren. Sie hatte nur ein Foto gesehen, zwei Sekunden lang, den Namen ihres Bruders gerufen und herzzerreißend geschluchzt. Als Damaris mit den Zimtbrötchen, Kaffee und Milch aus der Cafeteria zurückgekehrt war, saß John auf dem Fußboden und

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