Die geheime Stunde
wiegte seine weinende Tochter in den Armen.
»Ich bringe sie nach Hause«, hatte Damaris leise vorgeschlagen. Sie war selbst Mutter, hatte vier Kinder.
»Das mache ich schon«, hatte John geflüstert, ungeachtet seiner Termine, und Maggie an sich gedrückt. Ihr schmaler Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, ihr Atem ging rasselnd. Unter seiner Jacke verborgen, die er geistesgegenwärtig auf den Boden geworfen hatte, um ihr den Anblick zu ersparen, lagen die Bilder der Mädchen, von denen einige kaum älter waren als sie: Anne-Marie, Patricia, Terry, Gale, Jackie, Beth …
John hatte Teddy einmal gewarnt, dass forensische Aufnahmen bei Menschen, die nicht ständig damit in Berührung kamen, genauso viel Schaden anrichten konnten wie »Gift und Sprengstoff«. Er erinnerte sich an diesen Vergleich, weil sein eigener Vater ihn vor dreißig Jahren verwendet hatte, als John in sein Büro geschlichen war, um einen Blick auf ähnliche Fotos von einer Frau zu werfen, die damals einem Mord zum Opfer gefallen war.
Ironischerweise war ihre Leiche in dem Brunnen neben der alten Apfelmostmühle entdeckt worden, zwei Meilen von dem ersten Wellenbrecher entfernt, den Merrill benutzt hatte. John pflegte bis heute einen großen Bogen um die Mühle zu machen, genau wie sich Teddy nach dem Anblick der grauenvollen Fotos von den Wellenbrechern fern hielt, wo er sonst als kleiner Junge immer Fische und Krebse gefangen hatte.
Solche Fotos hinterließen einen nachhaltigen Eindruck; sie machten den Tod real. Seit kurzer Zeit, genauer gesagt, seit er sich mit dem Fall Merrill beschäftigte, begann ihn seine Arbeit zunehmend anzuwidern. Manchmal wäre es ihm lieber gewesen, er hätte nicht so viel darüber gewusst – über diese Raubtiere, die überall lauerten, wie Billy gesagt hatte. Er hatte sich immer für einen rechtschaffenen Menschen gehalten, aber er musste der Wahrheit ins Auge sehen: Er arbeitete für Mörder. Die Bilder ihrer Untaten lagen bei ihm zu Hause. Der Gedanke machte ihn krank.
Während er nun die Hand seiner Tochter hielt, spürte er, wie sie langsam wärmer wurde. Er drückte sie, wartete, dass sie den Händedruck erwiderte. Sie rührte sich nicht.
»He, Mags. Wir haben etwas vergessen.«
»Was?«
»Wir wollten doch einkaufen gehen.«
Sie nickte, aber bei näherem Hinsehen merkte er, wie die Farbe wieder aus ihrem Gesicht wich. »Aber nicht gleich, Dad, ja? Ich möchte lieber nach Hause, auf Teddy warten.«
»Auf Teddy?«
Maggie nickte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie flossen über, liefen über ihre Wangen. Sie leckte sie weg. »Ich will zu meinem Bruder«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme.
»In Ordnung, mein Schatz«, sagte John. Ihre Worte versetzten ihm einen Stich.
Er fuhr die Küstenstraße entlang, doch dann fiel ihm ein, dass sie derzeit ja bei seinem Vater wohnten. Wütend auf sich selbst, weil er zu beschäftigt gewesen war, um sich mit Nachdruck um ein neues Kindermädchen zu bemühen – und noch mehr, wenn er an den Ziegelstein dachte, der seine Fensterscheibe zertrümmert hatte –, bog er in die Straße ein, die zum Haus seines Vaters führte.
Als er in der Einfahrt parkte, drehte er sich zu Maggie um, aber sie war bereits aus dem Wagen gesprungen, sauste den Steinplatten-Weg entlang und die Treppe zur Haustür hinauf, als wäre ihr ein Ungeheuer auf den Fersen.
Er folgte ihr ins Haus und entdeckte Maeve, die mit einer Wolldecke zugedeckt auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief und laut schnarchte. Sein Vater war unterwegs, bei seiner wöchentlichen »Gerichtssitzung«, zu der sich die Hälfte der pensionierten Richter des Superior Court traf, um Poker zu spielen und von der guten alten Zeit zu schwärmen. Teddy war noch nicht zu Hause.
»Das ist für mich!«, hörte er Maggie plötzlich quietschen.
»Was denn?«
»Das Päckchen!«
Maeve hatte es vermutlich hereingeholt. John trat näher, um es genauer in Augenschein zu nehmen. In braunes Papier gewickelt, mit einem blauen Schmuckband verschnürt, war Maggies Name als Empfängerin vermerkt. John kannte die Handschrift – war beinahe vertraut mit ihr – aus den Anmerkungen auf der Rückseite des Fotos, das ihre Schwester zeigte.
Er nickte, um Maggie zu bedeuten, dass nichts dagegen sprach, es zu öffnen, und sah zu, wie seine Tochter es aufriss. Als Band und Einwickelpapier entfernt waren, kamen ein langer weißer Seidenschal mit Fransen und eine altmodische Fliegerbrille zum Vorschein. Ein Briefumschlag
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