Die geheime Stunde
Schal – ein Geschenk von Willa, liebevoll ausgesucht und mit Geld von ihrem Sparkonto in einer Pariser Boutique gekauft – war Kates kostbarster Besitz gewesen. Die cremefarbene Seide schmiegte sich weich um den Hals, die Fransen verliehen der Trägerin ein elegantes und zugleich verwegenes Aussehen.
»Jede Pilotin sollte einen besitzen!«, hatte Willa gesagt.
Und genau deshalb hatte Kate ihn an Maggie weitergegeben. Das kleine Mädchen – so verletzlich und mutig – hatte Kate berührt und an ihre eigene Schwester im gleichen Alter erinnert. Sie dachte an Maggie, ihren Bruder und ihren Vater und fragte sich, was sie wohl gerade tun mochten … ihre beiden Familien waren untrennbar miteinander verbunden, auf eine tief greifende, magische Weise, die nur wenig mit dem Kuss zu tun hatte, dem Kuss auf dem Parkplatz, wo Willa verschwunden war, wo Johns Mandant sie vermutlich getötet hatte … diesem Kuss, den Kate immer noch spürte, der ihrem Körper signalisierte – ihren Nerven, ihrer Haut und ihrem Herzen –, dass sie noch lebendig war.
Seltsam,
dachte sie.
Meine Schwester ist tot, und ich lebe. Wie kann das sein?
Sie hatte noch nicht richtig erfasst, was das zu bedeuten hatte. Die Realität geisterte durch ihre Gedanken, aber sie hatte den Weg zu ihrem Herzen, zu ihrem intuitiven Wissen noch nicht gefunden, hatte sie noch nicht von Kopf bis Fuß durchdrungen. Johns Kuss kam ihr realer vor als alles andere, ein seltsames und beunruhigendes Gefühl. Ihre Lippen spürten es noch immer – die Erregung, die Wärme, die sanfte Berührung eines anderen Menschen.
Sie flog nach Osten, empfand das Dröhnen der Cessna als tröstlich. Sie liebte den Klang der Flugzeugmotoren, auch das Anschwellen und Stottern, das Willa bisweilen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Während sie nach Hause flog, zu ihrer Insel, die der Atlantikküste wie eine schützende Barriere vorgelagert war, hatte Kate beinahe das Gefühl, ihre Schwester säße neben ihr.
Die Wahrheit war so unerträglich, dass sie jeden Gedanken daran verdrängte. Sich auf das Fliegen konzentrierend, passierte sie die Chesapeake Bay und die Ostküste von Maryland, dann drehte sie hart nach rechts ab und flog die Küste Virginias entlang, bis zu dem kleinen Flugplatz mit der Graspiste, den sie kannte und liebte: Wild Ponies Airfield.
Die kleine gelbe Maschine hüpfte auf und ab, als sie auf der flachen, weithin offenen, von tiefen Furchen durchzogenen und mit trockenem braunen Gras bewachsenen Landefläche aufsetzte. Kate hatte über Funk ein Bumblebee-Taxi bestellt; Doris Marley, die Fahrerin, wartete bereits. Doris brachte Kate zur Fischerhütte ihres Bruders. Sie sorgte dafür, dass nicht eine Sekunde des Schweigens einkehrte, und versorgte Kate mit Neuigkeiten, die alle Aspekte des Insellebens umfassten: Klatsch, Todesfälle, eine Hochzeit, ein Kampf ums Sorgerecht, das neue Dach, das der Futtermittel- und Getreideladen dringend benötigte, die Probleme, die Doris mit ihrer Hypothek, ihrer Sickergrube und der Ausbildung ihres Sohnes hatte – die typische Lebensgeschichte aller vom Pech verfolgten Taxifahrer auf der Insel, die jedem Fahrgast im Zuge einer längeren Wegstrecke präsentiert wurde.
Sie redete ohne Unterlass: »Uns steht schon wieder ein harter Winter bevor; muss mir dringend die Zähne richten lassen … hab schon wieder einen Backenzahn verloren; Joe Junior möchte aufs College, und ich habe versucht, die Studiengebühren zusammenzukratzen, aber das konnte ich vergessen, als die Sickergrube ihren Geist aufgab, musste eine neue ausheben lassen …«
»Vielen Dank, Doris«, sagte Kate, als sie die schmale, vom Treibsand zugewehte Straße entlanggefahren waren und das trostlose Brachland am Südzipfel der Insel erreicht hatten, auf dem nur noch Kiefern wuchsen. Sie holte einen Zwanziger heraus, sagte Doris, der Rest sei Trinkgeld, und bat sie, sie in einer Stunde wieder abzuholen.
»Thanksgiving steht vor der Tür!«, hatte Doris ihr nachgerufen. »Sag deinem Bruder, dass er bei uns zum Essen eingeladen ist … du auch, falls du den Feiertag nicht in Washington, sondern zu Haus verbringst.«
Kate hörte nur mit halbem Ohr hin, obwohl sie registrierte, dass Doris Willa nicht erwähnt hatte. Das Verschwinden ihrer Schwester hatte offenbar auch ohne offizielle Erklärung Eingang ins kollektive Bewusstsein der Inselbewohner gefunden – und keiner wusste so recht, was er dazu sagen sollte.
Matts Hütte war genauso von Wind und
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