Die geheime Stunde
die Kugeln beim Tivolispiel – prallten von Stuhlbein, Tisch, Bücherstapel und Kühlschrank ab, kullerten die unebenen Fußbodendielen bis zur Ostwand der Hütte hinunter.
Kate erstarrte, erschrocken über den Ausbruch ihres Bruders.
»Sie ist nicht tot, kapiert? Sie kann nicht tot sein.« Matts Zigarette klemmte beim Sprechen zwischen seinen spröden Lippen, und er rieb sich immer wieder die rissigen und schwieligen Hände, als wollte er sich von der Wahrheit reinwaschen.
»Matt …«
»Sie kann gar nicht sterben«, fuhr er mit blitzenden Augen fort. »Sie ist meine kleine Schwester. Ich bin zuerst an der Reihe zu gehen, dann du und zum Schluss Willa. Wir haben sie großgezogen, Katy. Wir waren wie leibliche Eltern für sie …«
»Ich weiß.« Kates Augen füllten sich mit Tränen.
»Sie war unser Sonnenschein; sie hat mich glücklich gemacht. Ihretwegen suche ich Perlen, suche jeden Tag nach der großen, der schönsten Perle von allen … Ich tue es für sie, Katy. Du – du hast alles, was das Herz begehrt. Imposante akademische Titel, einen tollen Job, das Stadthaus auf dem Capitol Hill …«
Kate hörte zu, während sie lautlos weinte und daran dachte, wie viel sie besaß, im Gegensatz zu Matt.
»Deshalb ist sie auf den Haufen Scheiße hereingefallen«, fuhr Matt fort. »Sie wollte auch wer sein, wollte ein wenig von dem haben, was ihre große Schwester hatte … sie hat sich mit deinem Mann eingelassen, damit sie sich eine kleine Weile einbilden konnte, sie sei wie du …«
»Hör auf, Matt!«
»Erzähl mir nicht, dass er sie geliebt hat – das nehme ich dir nicht ab. Er hatte ja schon dich, dieser hirnverbrannte Idiot. Er besaß bereits eine kostbare Perle – warum musste er nach einer weiteren tauchen? Er ist derjenige, Katy! Wenn du schon jemandem die SCHULD ZUWEISEN MUSST …«, Matts Stimme wurde zunehmend lauter vor Wut und Qual, » DANN DEINEM EHEMANN !«
»Matt!«
»Deinem großspurigen, dämlichen, machtbesessenen, egozentrischen Ehemann. Er hat Willa aus dem Haus getrieben. Wo immer sie jetzt auch sein mag, das geht auf sein Konto. Andrews. Und verschone mich mit dem Mist über Greg Merrill – Andrew war es!«
»Ach, Matt.«
Ich weiß,
hätte Kate am liebsten gesagt.
Ich bin der gleichen Meinung
. Aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen, versuchte, den Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen. Was für eine Rolle spielten die Gründe, die Willa zu ihrem Fortgang bewogen hatten? Seit Monaten zählte nur noch eines, ihre Rückkehr. Und jetzt blieb nur noch, dass sie wohl nie mehr zurückkommen würde.
»Er war es, Katy.«
»Andrew hat sie nicht umgebracht«, widersprach Kate hölzern.
»Das, was er gemacht hat, kommt aufs Gleiche raus. Er hat sie verführt, und sie ist daraufhin fortgegangen, hat sich abgeschottet von dir, von uns. Von ihrer Familie.«
»Du hast Recht«, flüsterte Kate.
»Ich würde ihn am liebsten umbringen«, fauchte Matt. »Meinen Schwager …«
»Tu’s nicht«, bat Kate ihn flehentlich. »Dann würde ich dich auch noch verlieren.«
Diese Worte oder vielleicht auch der herzzerreißende Tonfall bewirkten, dass Matts Wut schlagartig verpuffte. Er kniete sich auf den Boden und sammelte alle Perlen ein, deren er habhaft werden konnte. Er hielt sie hoch, in der gewölbten Hand, während er Asche von der Zigarette in seinem Mundwinkel auf den Boden verstreute.
»Würdest du jetzt bitte gehen, Katy?«, fragte er mit zitternder Stimme. Sie erkannte an seinem gebeugten Kopf – auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte –, seinem keuchenden Atem und anhand früherer Erfahrungen mit solchen Gefühlsausbrüchen, dass er weinte.
»Ich möchte dich nicht alleine lassen.« Sie legte ihm behutsam die Hand auf den Rücken.
Er lehnte sich einen Augenblick lang an ihre Fingerspitzen, dann schüttelte er sie ab und kroch auf allen vieren weiter, zur nächsten Perle.
»Das Leben ist manchmal schmerzlich, Matt. Aber gemeinsam können wir uns der Wahrheit stellen. Das haben wir schon vor langer Zeit getan …«
»Ihr geht es gut, dir geht es gut, mir geht es gut. Hörst du? Das ist die einzige Wahrheit, der ich mich stellen muss.«
»Indem du dich abschottest? Wie ein Einsiedler haust? Nicht akzeptieren willst, was eine Tatsache ist, wie ich
weiß
, weil ich in den Norden geflogen bin, um sie zu überprüfen?«
»Dir missfällt meine Art zu leben? Dann verschwinde doch!«
»Matt, bitte …«
»Geh«, sagte er. Und dann
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