Die geheime Stunde
lauter:
»Geh,
GEH !«
Kate holte tief Luft. Benommen und einer Übelkeit nahe vom Zigarettenqualm, wich sie zur Tür zurück und trat ins Freie. Die Luft war frisch, salzig und kalt. Sie brannte in ihren Lungen, trocknete Lippen und Nase aus. Seemöwen kreisten über ihr, kreischten gellend. Hufe donnerten den Strand entlang, die Wildpferde stürmten von einer abgelegenen Senke zur nächsten.
Kate sehnte sich nach dem gelben Flugzeug.
Sie hätte auf die Rückkehr des Bumblebee-Taxis warten können, aber sie beschloss, zu Fuß zu gehen; sie trottete die unbefestigten Wege entlang, die sie seit ihrer Jugend kannte, die magischen Wege der Austern, Seemöwen und Wildpferde, die Wege von Matt und Willa.
Sie ging schneller, Bonnie hielt neben ihr Schritt, und dann begann sie zu laufen. Sie konnte es kaum erwarten, bis der Motor ansprang, der Propeller sich drehte, bis sie starten, sich in die Lüfte erheben konnte. Sie dachte an den weißen Seidenschal, einen Teil von sich selbst, von Willa, den sie im Norden zurückgelassen hatte, bei Maggie.
Leben und Wahrheit. Das war es, was die O’Rourkes für Kate verkörperten. Sie kam aus einer finsteren Höhle, in der Tod und Lügen herrschten: Matt brachte sich allmählich um, qualmte sich zu Tode und bahnte sich mit Selbstbetrug seinen Weg durchs Leben, wenn es Dinge zu bewältigen galt, die schmerzten.
Perlen, Austern und Wildpferde, dachte sie. Sie waren alles, was Matt noch an Familie hatte. Während Kate weiterlief, dachte sie weinend an ihr eigenes Leben, an das, was blieb und was verloren war, und an die Tatsache, dass sie – mehr als sie es jemals für möglich gehalten oder sich erträumt hätte – eine Familie vermisste, die sie erst kurze Zeit kannte.
Ein weißer Schal, ein einziger Kuss: Kate stellte sich vor, dass der salzige Wind von Chincoteague sie forttrug, sie herumwirbelte, mit ihr über die Fichten und Dünen, den weißen Sand und den silbernen Wellen entschwand … sich ständig im Kreis drehend, immer nach Norden, den ganzen Weg bis Connecticut, bis Silver Bay, bis zu den O’Rourkes.
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14
M aggie hasste es, Dankschreiben zu verfassen.
Normalerweise nahmen sie viel zu viel Zeit in Anspruch, hielten sie vom Spielen und Lesen ab und klangen albern, wenn sie es endlich hinter sich gebracht hatte. Gestelzt, aufgesetzt, egal wie aufrichtig ihr Dank beim Abfassen des Textes gemeint war.
Mit diesem Brief war es anders.
Sie saß in ihrem Zimmer im ersten Stock von Gramps’ Haus. Der Posten des Kindermädchens war immer noch unbesetzt, woraus sie schloss, dass Teddy und sie die reinsten Giftspritzen sein mussten, denn andere Kinder, wie beispielsweise alle ihre Freunde, deren Mütter berufstätig waren, hatten Kindermädchen, die bis zum Abwinken blieben. Maggie beugte sich über den Schreibtisch und schrieb wie besessen.
Liebe Kate,
ich liebe den Schal. Ich weiß, er sollte eigentlich für mein Halloween-Kostüm sein, was toll war, auch wenn die Leute nicht auf den ersten Blick errieten, dass ich als Amelia Earhart ging, weil es nicht so offensichtlich war wie bei denen, die sich als Britney Spears, Vampire oder Samurai-Krieger verkleidet hatten, aber alle fanden es cool, sobald ich ihnen sagte, wen ich darstellte.
Der Schal war zwar ausschließlich für das Kostüm bestimmt, aber ich kann mich einfach nicht von ihm trennen. Ich trage ihn auch jetzt, obwohl ich schon im Schlafanzug bin. Ich gehe gleich ins Bett – meine Hausaufgaben sind gemacht, man glaubt es kaum. Alle! Ich hätte eine Eins mit Sternchen für Fleiß verdient, findest du nicht? (Ha, ha.)
Ich wünschte, es wäre so. Die Schule ist nicht mein Ding. (Nochmals ha, ha.) Ich bin nicht wie Teddy, der nur Spitzennoten einheimst. Und das nicht nur für Fleiß. Teddy ist ein Genie, genau wie Dad. Und Gramps. Er wird bestimmt ein ebenso »brillanter Jurastudent«. Ächz, stöhn. Ich kann den Satz langsam nicht mehr hören, weil bei uns zu Hause so viele von der Sorte herumlaufen!
Ich komme mehr nach meiner Mutter. Außer, dass sie gerne einkaufen ging und ich nicht, dass ich Kuscheltiere und Bücher mag und dass an mir ein Junge verloren gegangen ist, während sie ein Modeltyp war. Das sage ich nicht nur so, das ist mein Ernst! Die Models, die man in den Zeitschriften sieht, sind lange nicht so hübsch wie meine Mom. Nicht einmal die allerumwerfendsten.
Ich habe neue Vorhänge in meinem Zimmer.
Rot-blau karierte. Damit niemand von draußen reinschauen und ich »meine
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