Die geheime Welt der Frauen
auf der Brooklyn
Bridge vorstellte, wie sie durch die Eisengitter in den Fluss sah. Eigentlich jedoch war sie nicht sicher, ob sie in den letzten dreißig Jahren auch nur einmal zu Fuß über die Brücke gegangen und wie lange es überhaupt her war, dass sie sich mit jemandem über ihre Gefühle ausgetauscht, den Mund geöffnet und »Schau mal« gesagt hatte.
Sie standen kurz vor ihrem ersten Hochzeitstag, als Lev Simas Hand nahm und sie beim Abstellen der Einkaufstüten so eindringlich ansah, dass sie mit der Beschreibung des Verkehrs aufhörte und mit vor Angst verkrampftem Magen wartete, was er sagen könnte. Ging es um Connie, hatte sie das Baby bekommen, war etwas schiefgegangen? Sie fragte nicht nach. Allein der Gedanke daran beruhigte sie - das Unvorstellbare, das Unerwartete, war es, was einen niederschmettern konnte. Und dann zitterte Levs Mund leicht, verzog sich in Richtung eines Lächelns, und Sima entzog ihm ihre Hand, um die Lebensmittel auszupacken - es gab nichts, wovor man Angst haben musste, er neckte sie offensichtlich nur. Und sie hatte gleich gedacht, es handle sich um schlechte Nachrichten …
»Sima«, sagte Lev und griff erneut nach ihrer Hand, »deine Mutter ist tot.«
Sie machte sich los, um die Milch in den Kühlschrank zu stellen. Sie sollte nicht schlecht werden. Und dann die Eier, den Kopfsalat, und während sie in der Küche umherging und die Tüten leerte, fragte sie: »Was? Wann? Aber wir haben sie doch letzten Freitag noch gesehen. Da war doch alles in Ordnung.«
»Dein Vater hat heute Morgen angerufen«, erklärte Lev und blieb ganz ruhig stehen, während sie um ihn herumging. »Sie ist im Schlaf gestorben. Wahrscheinlich ein Schlaganfall, meinen sie. Sie hat nichts gespürt.«
Also war ihre Mutter gestorben und hatte kein Wort gesagt,
dass sie etwas Derartiges vorhatte. Warum hatte ihre Mutter ihr nichts gesagt? Hatte ihr Vater Bescheid gewusst? Ihre Brüder? Sie wurde immer wie ein Kind behandelt, nie informiert. »Warum hab ich nicht gewusst, dass das passieren würde?«
»Sima, was redest du da? Niemand hat etwas gewusst. Sie ist im Schlaf gestorben. Wirklich, das ist das Beste, was man ihr wünschen konnte.«
Sima konnte das schlecht verneinen, konnte nicht sagen, dass sie sich eine lange Krankheit für ihre Mutter gewünscht hatte. Ein langes, sich hinziehendes Sterben voller intimer Momente zwischen ihnen beiden. Ihre Mutter hätte sich umgedreht, sie angesehen und von all den vergangenen Jahren erzählt, ihre Lebensgeschichte, die Sima nicht kannte, von der sie sich nie als Teil gefühlt hatte. Und sie hätte für ihre Mutter gesorgt, sie wären sich endlich nahegekommen. Sima wäre nicht bloß die Nachzüglerin gewesen, das Anhängsel an der eigentlichen Familie, das geboren wurde, als ihre Mutter schon über vierzig und ihr jüngster Bruder schon zehn war, und niemand mehr, wie ihr eine alte Tante einmal sagte, mit ihr gerechnet hatte. Eine lange Krankheit wäre nötig gewesen, um die Kluft zwischen ihnen zu verringern. Darauf hatte Sima gehofft, als Tochter wäre dies ihre Rolle gewesen. Und jetzt war sie wieder enttäuscht worden.
»Wissen meine Brüder Bescheid?«
»Dein Vater wollte mit dem Anruf warten, wegen des Zeitunterschieds, obwohl es inzwischen schon sieben sein müsste in Los Angeles, also wahrscheinlich …«
Sima nickte. Sie würde sie auch gleich anrufen. Sie würden ihr etwas vorheulen, laut jammern. Wie stolz ihre Mutter wäre, wenn sie ihr Weinen hören könnte.
Warum weinte sie nicht? Der Gedanke schien ihr gleichzeitig mit Lev zu kommen. Sie sah, dass er sie argwöhnisch musterte
- hatte er nicht beim Lesen von Illustrierten-Artikeln Tränen bei ihr gesehen, bei den Abendnachrichten? Sie schloss die Kühlschranktür, senkte den Kopf und konzentrierte sich. Meine Mutter ist tot, dachte sie. Nichts passierte. Sie ballte die Hand zur Faust, drückte die Fingernägel in die Handfläche, kniff die Augen zu. Fühl etwas! Ein wenig Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augenwinkeln. Sie hob den Kopf, um sicherzugehen, dass Lev sah, wie die Tränen langsam herunterliefen.
Ihre Brüder flogen mit ihren Familien ein. Sie sprachen mit erstickter Stimme bei der Beerdigung, erklärten der Trauergemeinde, dass sie die beste aller Mütter gewesen sei, die hingebungsvollste, die liebste.
Sima lehnte den Kopf an Levs Schulter. Es war nicht Verlust, was sie spürte, sondern Neid - sie beneidete die anderen um ihren Schmerz.
Vor der Begräbniskapelle stand
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